Gehirndoping und die süchtige Arbeitsgesellschaft

Seite 2: Kommentar: Neuroenhancement und Leistungsdruck

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Ethikerinnen und Ethiker diskutieren unter dem Begriff Cognitive Enhancement oder neuerdings Neuroenhancement seit vielen Jahren den angeblichen Trend hin zur Leistungssteigerung durch Psychopharmaka. Dabei wurde gerne auf Studierende in den USA verwiesen, von denen man behauptete, dass dort schon jeder vierte Studierende beispielsweise Ritalin nehme, um in Prüfungen besser abzuschneiden. Diese Zahlen ließen sich jedoch nicht mit Blick auf die empirische Datenlage rechtfertigen.

Die Behauptung, der Psychopharmakakonsum sei verbreitet, besaß natürlich eine Suggestivkraft: Wenn so viele es tun, dann scheint es ja zu wirken und nicht sehr gefährlich zu sein. Zu der im akademischen Diskurs heraufbeschworenen Avantgarde der aufgeklärten und selbstbestimmten Leistungsoptimierer passte es jedoch von Anfang an nicht, dass den Untersuchungen zufolge höherer Wettbewerbsdruck und schlechtere Prüfungsleistungen mit dem höheren Konsum der Mittel korrelierten. Diese Ergebnisse legten vielmehr den Schluss nahe, dass es sich bei vielen Gehirndopern um willfährige Opfer des Leistungsdiktats handelte, die den Anschluss nicht verlieren wollten und dem sozialen Druck nachgaben (Mind-Doping für Alle?).

Stress und Leistungsdruck als Erklärungsfaktoren

Zu dieser Sichtweise passten auch die 2009 veröffentlichten Ergebnisse der DAK zum Schwerpunktthema Doping am Arbeitsplatz. Kompatibel zu den neueren Daten der AOK gaben damals rund 2% der Befragten an, regelmäßig Psychopharmaka zur Leistungssteigerung am Arbeitsplatz zu konsumieren. Vertretbar hielten dies mit 22% aber vor allem diejenigen, deren Arbeit durch hohen Stress geprägt war - vergleichbar den Desillusionierten und übermäßig Arbeitsorientierten der AOK-Befragung. Unter denjenigen, die ihre Arbeit überwiegend angenehm und bewältigbar hielten, fanden in der DAK-Studie nur 8% das Gehirndoping akzeptabel.

Im Januar 2012 veröffentlichte dann das HIS Forum Hochschule im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit einen Bericht über Formen der Stresskompensation und Leistungssteigerung bei Studierenden. Von den 8000 repräsentativ ausgewählten Befragten gaben 5% an, seit Studienbeginn schon einmal Gehirndoping betrieben zu haben, 1% tat dies nach eigenen Angaben regelmäßig. Auch hier zeigte sich wieder die Abhängigkeit von der Stresssituation der Betroffenen: Unter den Studierenden mit keinem oder geringem Leistungsdruck gaben nur 3% den gelegentlichen Konsum von Gehirndopingmitteln an, unter denjenigen mit sehr starkem Leistungsdruck (vor allem aus den Fächergruppen Medizin/Gesundheitswissenschaften) aber 9%.

Freiheit oder Anpassungsdruck?

Gemäß diesen Zahlen geht also die humanistisch-liberale Rechnung, die Konsumenten würden dies aus freien Stücken tun, aufgrund einer informierten Entscheidung für mehr beziehungsweise bessere Leistung, gerade nicht auf. Mit Blick auf Freiheit und Selbstbestimmung haben sich einige führende Ethikerinnen und Ethiker in den USA, Großbritannien und Deutschland mehrmals gegen eine gesetzliche Regulierung ausgesprochen - während die gesetzlichen Regulierer selbst übrigens nach Sichtung der bescheidenen Daten zum Nutzen und zur Verbreitung zu dem Ergebnis kamen, dass es hier vorerst ohnehin wenig zu regulieren gäbe.

Ähnlich wie an der Verklärung von der Anpassung an Leistungsdruck zur selbstbestimmten Freiheit (Link auf www.heise.de/tp/artikel/31/31803/1.html) krankte die ethische Debatte auch von Anfang an an einer strikt gezogenen Trennlinie zwischen Enhancement (Verbesserung) auf der einen Seite und medizinischer Therapie auf der anderen. Das heißt, sobald ein Arzt eine Krankheit beziehungsweise psychische Störung diagnostizierte und daraufhin Psychopharmaka verschrieb, wurde dieser Medikamentenkonsum ausgeklammert; stattdessen fokussierte man sich auf den nicht-therapeutischen Bereich des Enhancements, der Verbesserung des Menschen über das gesunde Maß hinaus.

Das einst Normale wird zum medizinischen Problem

Dabei ist es freilich nicht nur eine Binsenweisheit, dass die Trennlinie zwischen Krankheit und Gesundheit oft unscharf ist. Vielmehr gibt es seit Jahrzehnten eine fortschreitende Medikalisierung, die stets mehr persönliche und soziale Probleme in den ärztlichen Handlungsbereich aufnimmt. Die Idee, Erziehungs- und Schulprobleme durch die Verschreibung von Psychopharmaka zu behandeln, setzte sich schon in den 1970er Jahren in den USA durch. Unter Verweis auf angebliche Gehirnstörungen bei den betroffenen Kindern lieferten Wissenschaftler (bis heute) eine entscheidende Rechtfertigung für dieses Vorgehen - obwohl bis heute noch kein einziges Gehirnkriterium gefunden wurde, anhand dessen man die psychisch gestörten Kinder von den "normalen" unterscheiden könnte (Beinahe jede(r) Zweite gilt als psychisch gestört).

Dass es sich bei den Medikamenten, die seitdem gegen Erziehungs- und Schulprobleme verschrieben werden, um dieselben Substanzen handelt, die heute in der Neuroenhancement-Debatte im Zentrum stehen, ist bezeichnend. Gibt man die in diesem Bereich letztlich willkürliche Trennung zwischen Therapie und Verbesserung auf, dann kann man tatsächlich feststellen, dass der Konsum seit Jahren stark ansteigt: In den USA wurden 1990 noch 1,8 Tonnen des staatlich regulierten Methylphenidats produziert, ein häufig gegen Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörungen verschriebenes Medikament. 2011 waren es mit 56 Tonnen schon mehr als dreißigmal so viel. Die Produktion von Amphetamin ist im Vergleichszeitraum von 417 Kilogramm auf über 28 Tonnen gestiegen, also um das Siebzigfache.

Kein Ende der Nachfrage in Sicht

Dennoch war die medizinische Nachfrage - die entsprechenden Verschreibungen gibt es aufgrund der Missbrauchsgefahr nur auf besonderes Rezept - Ende 2011/Anfang 2012 so hoch, dass nicht alle Patienten ihre Rezepte gegen die Tabletten eintauschen konnten. Diesen Mangel hat die US-Regulierungsbehörde erst nach einigen Monaten behoben - durch eine weitere Erhöhung der Produktionsquote (FDA says ADHD drug shortage to end in April). Die aktuell vorgeschlagene Menge an Methylphenidat für das Jahr 2013 beträgt nun schon 72,3 Tonnen.

Das wirft die Frage auf, warum führende wirtschaftliche Nationen wie die USA - und in etwas geringerem Maßstab auch Deutschland, Großbritannien oder die Niederlande - in so hohem Maße auf Stimulanzien angewiesen sind; Substanzen, die viele Drogenkonsumenten zum Herbeiführen eines Rauschs konsumieren oder die deren Mitteln zumindest pharmakologisch ähnlich sind. Zahlen wie die der AOK, DAK oder der HIS können es zwar nicht endgültig beweisen, aber legen doch den Verdacht nahe, dass unsere Studier- und Arbeitswelt zumindest in Teilen Ausmaße angenommen hat, die viele Menschen nicht mehr im nüchternen Zustand ertragen können oder wollen.