Gehört die Liste mit angeblichen Stasi-Mitarbeitern wirklich ins Internet?

Widerspruch zu Frieder Weißes Kritik am Berliner Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit

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Frieder Weiße hat in seinem Telepolis-Artikel (Datenschutz auf Abwegen) Hansjürgen Garstka, den Berliner Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit, wegen seines Vorgehens gegen die Veröffentlichung einer Liste mit fast 100.000 angeblich ehemaligen Stasimitarbeitern und des Umgangs mit Dokumenten kritisiert, die aufgrund des Informationsfreiheitsgesetzes erlangt wurden. Es geht, auch wenn dies auf den ersten Blick so erscheint, nicht um den Umgang mit sog. "Stasi-Akten", über die zur Zeit wieder kontrovers gestritten wird, sondern einzig und allein um diese Liste, von Frieder Weiße "Datenbank mit der Gehalts- bzw. Überbrückungsgeld-Liste von 97.058 Hauptamtlichen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der ehemaligen DDR" genannt, die Namen, Geburtsdaten in Form einer Personenkennziffer, Gehaltssummen, teilweise Anschriften und vieles mehr enthält.

Nicht einmal der Ursprung der Daten ist völlig gesichert. Im Sommer 1990 gelangten Mitarbeiter des Sonderausschusses zur Stasi-Aufklärung an geheime Daten über die hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter. Bis die Listen von der Gauck-Behörde unter Verschluss genommen wurden, kursierten sie in unterschiedlichsten Kreisen, wurden ergänzt, verändert, usw. Fest steht, dass es von der "Datenbank" verschiedene Versionen gibt, doch welche ist die echte?

1991 veröffentlichte die schon länger nicht mehr erscheinende Berliner Wochenzeitung "die andere", im Spektrum ehemaliger DDR-Bürgerrechtler herausgegeben, erstmals Auszüge dieser Listen. Das Landgericht Berlin verurteilte die Zeitung 1992 deshalb wegen "übler Nachrede". Wie Peter Michael Diestel, letzter frei gewählter DDR-Innenminister (CDU) und andere mehrfach dokumentierten, hatte das MfS bei seiner Auflösung rund 85.000 Mitarbeiter. Ohne damit die Überdimensionierung des MfS-Apparats verwischen zu wollen, muss beachtet werden, dass sich darunter 16.000 Angehörige des Wachregiments und der Wacheinheiten, 12.000 Mitarbeiter für die "Sicherung des grenzüberschreitenden Verkehrs", über 13.000 Mitarbeiter für die "materielle, finanzielle, personelle und organisatorische Sicherstellung" befanden, also von der Putzfrau, dem Koch und der Kantinenbedienung bis zu Wäschereimitarbeitern, Betriebsärzten, Krankenschwestern usw. "Nur" knapp 10.000 Angehörige der Abwehr und der Aufklärung haben inoffizielle Mitarbeiter (IM) und deren Akten geführt.

Trennt man auch noch die HVA und den Rest, bleibt dennoch festzustellen, in beiden Bereichen übte die Mehrzahl der Mitarbeiter Tätigkeiten aus, die auch nach heutiger Betrachtungsweise nichts mit dem Spitzelapparat zu tun hatte und erst recht nicht mit Individualterror gegen Dissidenten, denn dem Moloch MfS unterstanden auch viele "normale" Aufgaben, die aus dem Aufgabenfeld des Innenministeriums im Laufe der DDR-Geschichte dem MfS zugeführt wurden. Man beachte die Differenz: Die Datenbank, für die Weiße kämpft, enthält über als 10 % mehr Namen bzw. Datensätze von angeblichen Mitarbeitern, als sie die letzte Volkskammer und frei gewählte DDR-Regierung in ihren Akten und Unterlagen führte und als von dieser Gehalt- und Überbrückungsgeld erhielten!

Wie verträgt sich die Veröffentlichung dieser Listen mit rechtstaatlichen Prinzipien, Datenschutz und "Free Speech" im Internet?

Als im Januar 2000 die fast 100.000 Namen vom "Team vom Zentralregister" in das Internet gestellt wurden, garnierten Lerch oder die Gruppe hinter ihm ihre Datenbank mit der Aufforderung an alle wirklichen und in ihrer Liste genannten vermeintlichen ehemaligen MfS-Mitarbeiter: "Setzen Sie sich mit einem Anwalt in Verbindung." Die Seiten waren bei Denic auf Manfred Willi Lerch registriert, Lerch behauptete, hinter ihm stehe eine Gruppe "junger Leute", die DDR-Geschichte aufklären wollten. Der bisherige Umgang mit der Stasi verdiene das Wort Aufarbeitung nicht. Deshalb würden sie nun "handeln".

Sofort wurde auch mit den Listen gehandelt, Detekteien boten ehemaligen DDR-Bürgern an, gegen Entgelt ihnen die Namen von Stasiagenten im Verwandten-, Bekannten- und Kollegenkreis zu nennen, Firmen erhielten Schreiben, ob sie Interesse hätten, gegen Entgelt zu erfahren, welche Ex-Stasimitarbeiter bei ihnen Unterschlupf gefunden hätten. Andere wandten sich an Menschen auf der Liste und boten ihnen, wiederum nicht uneigennützig, die Vermittlung guter geeigneter Anwälte aus dem Westen an, die ihren Schutz gewährleisten könnten.

Weiße sagt in seinem Beitrag, nicht die Veröffentlichung all dieser Namen und Daten und ihre private und wirtschaftliche Verwertung, sondern die Nennung des bei Denic eingetragenen Besitzers der Website im Spiegel sei Menschenjagd. Und er verstärkt dies noch mit der unbewiesenen Legende eines angeblichen Anschlags auf Lerch und böser Mächte in England.

Den Missbrauch der Namen und Daten nahm im Jahr 2000 Hansjürgen Garstkas Behörde zum Anlass, es als erwiesen anzusehen, dass die Listen der "geschäftsmäßigen Datenverarbeitung" dienen. Damit hätte das Bundesdatenschutzgesetz gegriffen, das Geldstrafen oder Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr bei unbefugtem Übermitteln oder Beschaffen von geschützten personenbezogenen Daten vorsieht. Hinzu kam die Identität von Daten der Lerch-Listen mit Daten, die schon 1992 zum Urteil wegen "übler Nachrede" gegen die Zeitung "die andere" geführt hatte, was auch in dem von Weiße genannten Spiegelartikel erwähnt, aber in Weißes Beitrag verschwiegen wird. Verschwinden wird die Liste sowieso nie mehr, da sie mehrfach auf unterschiedlichen Webservern im Ausland liegt.

Auch nach einer Novellierung des Bundesdatenschutzgesetzes im Jahr 2001 muss erneut überlegt werden, welche Güterabwägungen die Höherwertigen für rechtstaatliches Handeln, Informationsfreiheit und Meinungsfreiheit im Internet sind. Ist die Veröffentlichung einer zweifelhaften Liste mit persönlichen Daten abgedeckt durch freie Rede? Eine (illegale) Kopie von Gesundheitsakten, Gehaltslisten, der Punktedatei in Flensburg oder der Mitgliedsdatei einer Gewerkschaft oder Partei frei zugänglich im Internet, der Aufschrei wäre groß und niemand würde vermutlich ein Linkverbot zu einer solchen Liste als Einschränkung der Informationsfreiheit verstehen.

Ich halte es als Wessi mit dem politisch engagierten Theologen und Sozialdemokraten Friedrich Schorlemmer, der wiederholt einen differenzierten Umgang mit dem Thema eingefordert hat: "Wenn das so weitergeht, wird jeder Bürger wieder unter Generalverdacht gestellt." Mit Sicherheit haben Viele auf dieser Liste sich nichts zu Schulden kommen lassen, weder nach DDR-Recht noch nach bundesdeutschem Recht. Hinzu kommt, nochmals betont, dass Leute auf der Liste stehen, die nie etwas mit dem MfS zu schaffen hatten.

Daher trifft nicht zu, dass hier Täterschutz vor Opferschutz gehe, noch darf auch nur für einen ehemaligen Mitarbeiter des MfS das Recht ausgehebelt werden, das für Jedermann gilt, nämlich die Unschuldsvermutung bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung. Sonst verliert die Rechtsordnung der Bundesrepublik jede Legitimation, sich gegenüber MfS-Willkür als die bessere zu verkaufen. Garstka ist ein Datenschützer, der gegen jede Schnüffelei und Internetzensur engagiert streitet und beileibe kein Freund des ehem. MfS-Apparats ist, der aber über seinen Schatten zu springen versuchte, indem er als Datenschützer gegen den Missbrauch dieser Listen in seinem Tätigkeitsbereich, auch mit Hilfe des Internet, aktiv wurde. Das Problem ist, ob das Internet den Datenschutz aushebeln und als mittelalterlicher Pranger missbraucht werden darf - gegen wen auch immer?