Geht es um Rassismus oder um Regierungsfähigkeit?
Seite 2: Warum hat die Migrationsfrage für die Restlinke einen solchen Stellenwert?
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Es stellt sich nun die Frage, warum für Seibert und einige andere Linksliberale die Migrationsfrage eine solche Zentralität bekommt? Auch davon findet man nichts in dem Interview und auch nicht in den Erklärungen anderer außerparlamentarischer Gruppen. Man findet nicht den Hauch eines linken Konzepts, wonach eine größere migrantische Population die Bedingungen für linke Politik hierzulande verbessern könnte.
Wenn es auch illusionär sein mag, so hätte ein solches Konzept zumindest den Charme, dass man darüber diskutieren und dafür und dagegen argumentieren kann. Da bleibt am Ende nur der Verdacht, Seibert und seine Freunde wissen, wie dringend der Wirtschaftsstandort Deutschland auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen ist. Deswegen unterstützen ja auch große Teile der deutschen Wirtschaft den Merkel-Kurs und nicht die AfD.
Der Soziologe Stephan Lessenich, der im Neuen Deutschland mit seiner Polemik gegen Wagenknecht eine lebhafte Diskussion auslöste, erkennt anders als Seibert:
Die "Wir schaffen das"-Parolen Angela Merkels waren nicht nur unglaubwürdig, sondern geradezu zynisch, weil sie den Worten keine infrastrukturellen und anerkennungspolitischen Taten folgen ließ - im Gegenteil.
Stephan Lessenich
Lessenich, der im Umfeld der linksliberalen Kleinstpartei Mut aktiv ist, kommt zu einigen diskussionswürdigen Vorschlägen einer gemeinsamen Interessenvertretung unabhängig von Herkunft und Pass:
Warum können Frau Wagenknecht, Herr Lafontaine und ihre Linken Mitredner/innen nicht verstehen, dass unter alledem Arm ("deutsch") und Arm ("nicht-deutsch") gleichermaßen leiden - und daher tunlichst Hand in Hand für eine progressive und emanzipatorische Umgestaltung dieses Gemeinwesens kämpfen, gemeinsam für eine andere Republik streiten sollten?
Stephan Lessenich
Doch dann sollte man die Migranten nicht als "hilfsbedüftige Flüchtlinge" titulieren, eine Formulierung, die sich auch in Lessenichs Text eingeschlichen hat. Natürlich gibt es die auch, doch der Großteil der Migranten sucht selbstbestimmt ein besseres Leben in Europa, was der kürzlich angelaufene Film Als Paul über das Meer kam noch einmal gut deutlich machte.
Solidarität statt Caritas
Wenn der Großteil der selbstbestimmten Migranten zu hilfsbedürftigen Flüchtlingen gemacht wird, hat das zwei fatale Folgen. Die Migranten werden zu Opfern erklärt, die weißer Helfer bedürfen, obwohl sie die schwierigen Wege auf sich genommen haben. Zudem verhindert man, dass in der Gesellschaft über die Migration argumentativ und nicht moralisch diskutiert wird.
Da könnte auch darüber diskutiert werden, dass es für einkommensarme Menschen auch in Deutschland Sinn macht, sich mit anderen Menschen zusammenzuschließen, die in einer ebenso schlechten oder noch schlechteren Lage sind. Das ist der Gedanke der Solidarität, der keine Hautfarbe und Grenzen gibt. Dieser Gedanke leitete die Gewerkschafter, die eine Gewerkschaftsmitgliedschaft unabhängig vom Aufenthaltsstatus forderten.
Der Gedanke der Solidarität war auch maßgeblich, als die Basisgewerkschaft Freie Arbeiterunion (FAU) Bauarbeiter der Mall of Berlin beim Kampf um den ihnen vorenthaltenen Lohn unterstützten. Dieser Solidaritätsgedanke ist eben keine Caritas und sie geht davon aus, dass es im Interesse aller Ausgebeuteten liegt, wenn sie sich zusammenschließen.
Solche Fragen wurden schon in der historischen Arbeiterbewegung vor mehr als hundert Jahren gestellt. Daher ist es auch so fatal, wenn postmoderne Theoretiker wie Mario Neumann und Sandro Mezzadra in ihrer Flugschrift Jenseits von Interesse und & Identität, die im Laika-Verlag erschienen ist, die Klassenfrage zugunsten von Identitätspolitik ausblenden.
Wenn es in der Verlagsankündigung über die Autoren heißt: "Sie zeigen, dass die Kämpfe der Jugend, der Migrant*innen und der Frauenbewegung spätestens seit 1968 im Zentrum jeder Klassenpolitik stehen", dann wird die Geschichte der Arbeiterbewegung retuschiert. Der Kampf der Frauen spielte dort eine große Rolle. Es war vor 100 Jahren in der frühen Sowjetunion eine Alexandra Kollontai, die die Befreiung der Frau das erste Mal zum Gegenstand von Regierungspolitik machte.
Zudem war die reale Arbeiterklasse in Deutschland immer transnational und migrantische Arbeiter waren oft diejenigen, die am entschiedensten im Streik die Interessen aller Kolleginnen und Kollegen verteidigten. Identitäts- versus Klassenpolitik, das ist eine falsche Alternative , und doch diskutieren Linke in aller Welt genau darüber. Dagegen wäre eine Klassenpolitik auf der Höhe der Zeit angesagt, die anerkennt, dass die Klasse nicht nur aus Männern besteht und dass sie transnational ist. Damit kann sie an Traditionen der Arbeiterbewegung anknüpfen, die von den feindlichen Brüdern Stalinismus und Sozialdemokratie weitgehend ausgeschaltet wurden.
Dass sich manche Linke heute hinter Merkel stellen oder sich im Machtkampf der neuen Sozialdemokraten positionieren, zeigt aber auch, wie tief diese Erkenntnisse verschüttet sind.