Gelbwesten: Insistierende Mobilisierung
Zum "Acte IX" kamen 84.000 in ganz Frankreich nach offiziellen Quellen, inoffizielle gehen von weit mehr aus. Die Protestbewegung zeigte sich in vielen Städten
Es kamen mehr als am letzten Samstag. Um 19 Uhr nannte das französische Innenministerium die Zahl von 84.000 Demonstranten in ganz Frankreich, die dem Aufruf zum "Acte IX" der Gilets Jaunes gefolgt waren. Am Samstag zuvor, dem achten seit Beginn der Proteste, hatte man als offizielle Teilnehmerzahl 50.000 angegeben.
Der Protest der Gelbwesten geht weiter, hieß es vor einer Woche nach den vorangegangenen Wochenenden in der Weihnachts- und Neujahrszeit mit deutlich weniger Teilnehmern als zuvor. Gestern kamen nach offiziellen Zahlen 34.000 mehr.
Wie das üblich ist, melden andere Quellen mehr Teilnehmer als das Ministerium unter Leitung von Christophe Castaner, der nicht daran interessiert ist, den Gelbwesten über solche Zahlen größeres Gewicht zuzuschreiben als nötig. Gar von 360.000 Teilnehmern liest man bei der Gewerkschaft Syndicat France Police-Policiers en Colère als Schätzung für 17 Uhr.
Wo groß die wirkliche Teilnehmerzahl war, bleibt kontrovers. Als verlässlich gilt die Zahl von 80.000 Sicherheitskräften, die gestern im ganzen Land im Einsatz waren. Und die Liste der Städte, wo sich die Gilets Jaunes trafen, ist sehr lang: Reims, Annecy, Rouen, Bourges, Tours Poitiers, Angers, Cholet, Nantes, Vannes, Rennes, Quimper, Brest, Cherbourg, Caen, Creil, Arras, Lille, Lens, Epernay, Laon, Sedan, Verdun, Strasbourg, Metz, Nancy, Grenoble, Nice, Menton, Lyon, Montpellier, Marseille, Nîmes, Toulon, Saint-Brieuc, Saint-Étienne, Saint Nazaire, Clermont-Ferrand, Amiens, Dijon, Le Mans, Avignon, Toulouse, Bordeaux und Paris.
Sie ist damit nicht vollständig, Besançon etwa fehlt, Nizza oder Perpignan. Die Dimension der Proteste zeigt sich auch darin, dass für Bordeaux, eins der Zentren der Protestbewegung, eine Teilnehmerzahl zwischen 15.000 und 20.000 geschätzt wurde. Auch Toulouse gehört zu den Städten mit auffallenden Protesten, meist begleitet von Auseinandersetzungen mit der Polizei. Dort wurde gestern von 6.000 Teilnehmern berichtet und dazu die bekannten Bilder mit Tränengas und brennenden Gegenständen verbreitet. In Marseille waren es laut Polizei 2.500 Teilnehmer und nach anderen Quellen "mindestens 10.000". Unterlegt wird diese Zahl mit Bildmaterial, das tatsächlich eine beeindruckend große Menschenmenge unverkennbar in der Hafenstadt zeigt.
In Paris sollen laut offiziellen Angaben, wie sie Le Monde übermittelt, 8.000 am neunten Akt der Gelbwesten-Proteste teilgenommen haben, im Vergleich zu 3.500 am Samstag zuvor. Aber die Hauptstadt sollte dieses Mal ausdrücklich nicht Zentrum der Proteste sein. Die Facebook-Gruppe La France en colère ("Wütendes Frankreich") hatte dazu aufgerufen, dass man sich in der Mitte des Landes, in Bourges trifft.
Zwei in der Öffentlichkeit bekannte Personen der Gelben Westen hatten diese Wahl unterstützt: Priscillia Ludosky, die mit ihrer Petition die Bewegung mit ins Rollen gebracht hat, und Maxime Nicolle. Er ist Administrator einer Facebookseite und von daher bekannt als "Fly rider".
Nicolle steht für eine Seite der Gelben Westen, die im öffentlichen Gespräch sehr umstritten ist und leicht diskreditiert werden kann. Er äußert sich abgehoben, plakativ mit revolutionären Forderungen, die unrealistisch sind. Er ist für eine sofortige Auflösung der Nationalversammlung, die Einsetzung einer Übergangsregierung, die Abschaffung des Präsidentenamts. Es sieht aber überhaupt nicht danach aus, dass die Gelben Westen Forderungen dieser Dimension durchsetzen können.
Seine Ansicht, dass es sich in Nizza im Juli 2016 nicht um einen Terroranschlag handelt, rückt ihn in die Ecke der Verschwörungsspekulanten. Die politische Stärke der Gelbwestenproteste rührt nicht von solchen Spleens, sondern geht von realen Lebensbedingungen breiter Schichten aus.
Éric Drouet, den der populärste Politiker der Linken, Mélenchon (France insoumise), kürzlich als Stimmträger der Gelben Westen bezeichnete, rief wie zuvor auch, zum Protest nach Paris. Das linksliberale Medium Mediapart ist wahrscheinlich nicht das einzige, das hier eine Konkurrenz oder eine Abspaltung wittert. Der aus solchen Erwägungen relevante Schluss, nämlich inwieweit dies Einfluss auf die politische Wucht der Protestbewegung hat, ist im Augenblick nicht zu ziehen.
Nach Bourges kamen laut Präfektur immerhin 6.000 Sympathisanten der Gilets Jaunes. Es ist ein weiteres Signal dafür, dass die Bewegung eine breite Basis hat, die sich in ganz Frankreich mobilisieren lässt, was nun daraus realpolitisch nach den entgegenkommenden Maßnahmen Macrons weiter folgt, ist unbestimmt. Zuletzt setzte die Regierung vor allem auf massiveres Vorgehen gegen Randalierer ("casseurs") bei den Demonstrationen. Premierminister Edouard kündigte vergangene Woche ein neues schärferes Gesetz zur besseren Durchsetzung der öffentlichen Ordnung gegen die casseurs an.
Bilder, die schlimme Ausschreitungen zeigen, sowohl vonseiten der Demonstranten wie auch der Polizei, gab es auch an diesem Samstag reichlich (siehe hier, hier und hier).
Für die Ladenbesitzer ist dies eine harte Periode. Neun Samstage hintereinander bedeuteten für viele, auch und besonders in der Provinz, dass sie an dem Tag, wo viele einkaufen gehen, kein Geschäft machen.