Frankreich: Protest der Gelbwesten geht weiter

Archivbild vom 19. Dezember 2018 in Voreppe (Isère). Foto: Jean-Paul Corlin / CC BY-SA 4.0

"Akt VIII" am ersten Samstag des neuen Jahres und eine Forderungsliste zeigen, dass die Protestbewegung nicht am Ende ist, wie es sich die Regierung in Paris wünscht

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Die französische Regierung hätte die Protestbewegung am liebsten für tot erklärt, als erledigte kurzzeitige Irritation der Präsidentschaft Macrons, aber die Gilets jaunes (häufig mit "Gelbwesten" übersetzt) zeigten an diesem Samstag, dass sie eine ziemlich lebendige Kraft sind, mit der weiter zu rechnen ist. Auf nachmittäglichen Bildern aus Paris ist ein langer Zug der Gelbwesten zu sehen, der Richtung Parlamentsgebäude zieht.

Auch auf späteren Bildern aus der Hauptstadt hat es nicht gerade den Anschein, dass es sich hier um einen Trauerzug einzelner übriggebliebener Veteranen einer überlebten sozialen Bewegung handelt. Aber man weiß um die Manipulierbarkeit solcher Bilder, wie sehr Ausschnitte aufgeblasen werden können, wie viel die Perspektive ausmacht. Daher ist am frühen Abend auch noch nicht wirklich einzuschätzen, wohin sich der Aufbau von Barrikaden, das Anzünden der Barrikaden und erste Ausbrüche von Gewalt - wie stets auch seitens der Polizeikräfte - weiter entwickeln werden.

Mit Einsetzen der Dunkelheit wurden Bilder von brennenden Autos, angeblich in der Nähe der Champs Elysées, veröffentlicht. An der Adresse wird wie auch am Bildmaterial vom Boulevard Saint Germain, wird deutlich, dass erneut das teure Pariser Zentrum Schauplatz der Proteste in der Hauptstadt ist. Und wie beinahe zu jedem vorangegangenen Akt der Gilets heißt es wieder am Abend, dass die "Spannungen zunehmen". Innenminister Christophe Castaner rief am Nachmittag einen kleinen Krisenstab zusammen.

Politische Absichten und Teilnehmerzahlen

Laut Teilnehmerzahlen, die Le Monde von der Polizei für 15 Uhr erfahren hat, zählte man dort um diese Zeit 25.000 Demonstranten in ganz Frankreich, mit, wie die Zeitung mitteilt, dem "Hinweis, dass es am Samstag, den 29. Dezember um diese Uhrzeit etwa 32.000 Personen waren".

Man erkennt hier sehr deutlich die politische Absicht. Am letzten Wochenende im vergangenen Jahr war man in Regierungskreisen und in den damit mehr oder weniger offen sympathisierenden Medien froh und erleichtert darüber, dass die Teilnehmerzahl der Proteste weiter zurückgegangen waren.

Wenn man nun feststellt, dass trotz der Fülle an Bildern, die ganz anderes darstellen als eine Bewegung, der die Luft ausgeht, die amtliche Teilnehmerzahl auch an diesem Wochenende weiter zurückgegangen ist, dann klingt das ganz nach einem politischen Sieg. Den es in Wirklichkeit für die Regierung gegenwärtig nicht gibt.

Die Zahlen werden denn auch nach oben nachkorrigiert, wie sich schon wenig später zeigte. Am frühen Abend berichtete Le Monde bereits von 50.000 Teilnehmern landesweit. Die Zahl wird am morgigen Sonntag sicher noch höher liegen.

Als Zentren der Proteste im Land werden genannt: Bordeaux, mit geschätzt 4.000 Teilnehmern am Nachmittag, Toulouse (2. 000 Teilnehmer), Rouen (1.700), die Blockade der Autobahn A7 bei Lyon mit "mehreren Tausend Teilnehmern"; 2.000 Teilnehmer in Nantes und einige Hundert in Marseille, wo es vor der Zeitung La Provence zu einem nicht gewalttätigen Disput zwischen Gelbwesten kam. Es ging laut Libération unter anderem um die Frage, wer wen repräsentiert.

Diskussionen darüber, wer die Protestbewegung repräsentiert, laufen ständig parallel zu den Aktionen der Gilets jaunes, zu deren Besonderheit es gehört, dass sie sich nicht auf diese Weise vereinnahmen und in "gewohnte politische Formate" bringen lassen wollen.

Wie sehr Medien und Politik die Bewegung via Führungsfiguren zu fassen versuchen, zeigte sich vergangene Woche bei der mittlerweile aufgehobenen Festnahme von Éric Drouet, der zusammen mit Priscillia Ludosky mit Facebook-Initiativen die Bewegung im Herbst kräftig angestoßen hatte und seither immer wieder mal als Wortführer (auch an dieser Stelle) oder als "Stimmträger" (Mélenchon) bezeichnet wird.

Wer sich daraufhin die Liste der Forderungen anschaut, wie sie auf der eigens eingerichteten Webseite Revendications Gilets jaunes zur Abstimmung veröffentlicht wird, erkennt rasch, wie müßig zumindest zum augenblicklichen Zeitpunkt Spekulationen über Führungsfiguren sind.

Die Forderungen der Gelben Westen zur Abstimmung

Die Forderungen sind derart vielfältig, dass sie auch nicht einem bestimmten politischen Lager zuzuordnen sind, auch nicht in einer Einteilung "links/rechts", am ehesten vielleicht noch "reich/arm" (wie sich z.B. an den Forderungen zur Erhöhung des Mindestlohns und der Einführung eines Maximallohns ablesen ließe sowie an den Steuerforderungen gegenüber den Großen und der Verschonung mittlerer und kleiner Betriebe) .

Wenig überraschend ist, dass die Medien, die heute auch Stationen der Proteste der Gelbwesten waren, wie z.B. das AFP-Gebäude in Paris, hier den Interessen der Reichen zugeordnet werden. Ein Punkt aus der Forderungsliste, der zur Abstimmung gestellt wird, lautet "Kampf gegen die Medienkonzentration". Erklärt wird dazu: "Wir akzeptieren nicht länger, dass 90 Prozent der Medien in der Hand einer Handvoll Milliardären sind, die sie als Werkzeug der Propaganda missbrauchen, um ihre Interessen zu schützen."

Die Medienkonzentration fasste Jürg Altwegg, ein immer gut unterrichteter Autor der FAZ, im letzten Sommer sehr anschaulich so zusammen:

Die führenden Medien befinden sich fast ausnahmslos in den Händen der zehn reichsten Franzosen. Dem kürzlich verstorbenen Flugzeugbauer Dassault gehörte das "Figaro"-Imperium, der Telekomunternehmer Xavier Niel besitzt zusammen mit einem Banker "Le Monde" und "L’Obs", der allerreichste Franzose Bernard Arnault (LVMH) hat sich die führende Wirtschaftszeitung "Les Echos" gekauft und vor dem Wahlkampf zusätzlich das führende Boulevardblatt "Le Parisien" - um Sarkozy zu unterstützen, wie Kritiker munkelten. "Libération" und "L’Express" befinden sich im Besitz von Patrick Drahi, der in den Vereinigten Staaten Kabelnetze betreibt und dem in Frankreich die Telefongesellschaft SFR gehört. Und so weiter.

Jürg Altwegg

Man kann an diesem herausgegriffenen, aber wichtigen Punkt sehr gut erkennen, dass die politischen Forderungen der Gilets jaunes sehr wohl ernstzunehmen sind und dass sie gute Gründe für ihren Protest haben. Daher müht sich auch die französische Regierung weiterhin ab, sie möglichst für passé zu erklären als erledigt oder als "Hass-Brigade" darzustellen.

Hass und Gewalt sind die Stichworte, mit denen man die Proteste desavouieren will. Man könnte weitere Punkte aus dem Forderungskatalog zitieren, etwa dass man verbieten will, "aus alten Menschen Geldvorteile zu ziehen, weil sie es nicht verdient haben" oder "dass Behinderte höhere staatliche Zuweisungen bekommen und bessere Bedingungen vorfinden sollten" oder die Forderung, "dass Asylsuchende besser behandelt werden sollen", um zu zeigen, auf welch' dünnen Boden man sich mit solchen Generalvorwürfen bewegt.

Die Proteste sind nicht so einfach auf einen Nenner zu bringen. Auch wenn es am Abend wieder einmal hässliche Bilder gibt.