Generalstreik in den USA?
Die anhaltenden Arbeitskämpfe jenseits des Atlantiks verdichten sich. Eine neue Welle von Arbeitsniederlegungen im Oktober bremst das Wirtschaftswachstum
Zum zweiten Mal in diesem Jahr warnen die Schlagzeilen der großen Nachrichtenmonopole von einer sich zuspitzenden Knappheit verfügbarer Arbeitskräfte auf dem US-Markt. Diese treibe die Produktionskosten immer weiter in die Höhe.
Laut dem Nachrichtensender CNN beklagt die Hälfte aller US-Unternehmen, ihre Nachfrage an qualifizierten Arbeitskräften nicht im ausreichenden Maß decken zu können.
Bereits für den zurückliegenden September berichtete die New York Times, dass es wegen des Fachkräftemangels nicht zum erwarteten Aufschwung am US-Arbeitsmarkt komme.
Dabei dürfte es sich doch wenigstens um eine starke Verzerrung durch die Medienkonzerne handeln. Während die global explodierenden Energiekosten eine sehr viel wichtigere Treibkraft der Teuerungsrate auch in den USA sein dürfte, rührt die "Knappheit" an Arbeitskräften dortzulande auch von einer historischen Streikwelle her.
Zum ersten Mal seit Jahrzehnten haben die US-Arbeiter genügend Druckmittel, um bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne zu fordern.
Begonnen hat die nicht abreißende Streikwelle der ausschließlich als "Corona-Krise" geframten Depression tatsächlich bereits 2019.
Seitdem haben die Arbeitskämpfe Ausmaße angenommen, die mittlerweile in den USA als De-Facto-Generalstreik wahrgenommen werden. In der Summe kommen die Streiks – angefangen von Fernseh- und Filmcrews in Hollywood über Arbeiter des Landwirtschafts- und Baumaschinenherstellers John Deere, Bergarbeiter in Alabama, Arbeitern des Cornflakes-Herstellers Kellogg’, Krankenschwestern und anderen Beschäftigten des Gesundheitswesens über Amazon-Lagerarbeitern bis hin zu Angestellten von örtlichen Müllabfuhren, die sich spontan in Graswurzelgewerkschaften organisiert haben – einem Generalstreik zweifellos sehr nahe.
Offene Stellen in USA auf Rekordhoch
Als Striketober – Streik-Oktober also – hat der historische Höhepunkt dieses weitgehend unorganisierten, noch nicht stark vernetzten, aber potenziell schlagkräftigen Arbeitskampfes bereits ins Vokabular der US-Umgangssprache Einzug gehalten.
Robert Reich, Arbeitsminister der ersten Clinton-Regierung, welche die meisten Wähler noch mit großen Hoffnungen auf sozialen Fortschritt gewählt hatten, beschrieb die Situation unlängst im britischen Guardian wie folgt:
Dieses Druckmittel kommt folgendermaßen zustande. Nach anderthalb Jahren der Pandemie haben die Verbraucher einen Nachholbedarf an allen möglichen Waren und Dienstleistungen. Den Arbeitgebern fällt es jedoch schwer, Stellen zu besetzen, um diese Nachfrage zu befriedigen.
Robert Reich, Arbeitsminister der ersten Clinton-Regierung
Gleichzeitig haben sich Reich zufolge nach "Elend, Krankheit und Tod" die Prioritäten der Menschen verschoben.
Der jüngste Arbeitsmarktbericht zeige, dass die Zahl der offenen Stellen ein Rekordhoch erreicht hat. Der Anteil der Menschen, die arbeiten oder aktiv Arbeit suchen, ist auf ein Rekordtief von 61,6 Prozent gefallen.
Im August kündigten zudem 4,3 Millionen US-Amerikaner ihren Arbeitsplatz, die höchste Kündigungsrate seit 2000.
Die US-Unternehmen erhöhen mittlerweile die Löhne, um Arbeiter wieder zurückzugewinnen: Der Durchschnittslohn ist im September um 19 Cent pro Stunde gestiegen und hat sich im letzten Jahr um mehr als einen US-Dollar pro Stunde erhöht.
Ein Tropfen auf den heißen Stein, der nicht ausreicht, die Streikwelle zu brechen, die das Corporate America und seine Medien daher weiterhin als "Arbeitskräftemangel" darzustellen versuchen.
Tatsächlich gibt es jedoch ungebrochen einen Mangel an existenzsichernden Löhnen, an Gefahrenzulagen, an Kinderbetreuung, an einer öffentlichen Gesundheitsversorgung und bezahlten Krankentagen.
Wenn diese Mängel nicht behoben werden, dürfte dieser inoffizielle Generalstreik so schnell nicht enden.