Genfer Konventionen sind veraltet
Der britische Verteidigungsminister forderte in einer Rede, dass man angesichts des "neuen Feindes" die "Gesetze des 20. Jahrhunderts" für den Umgang mit Gefangenen oder einen Präventivschlag an die Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts anpassen müsse
Der britische Verteidigungsminister John Reid scheint zu erkunden, ob der Kampf gegen den Terrorismus, tituliert als neuer Krieg, es nicht ermöglichen könnte, manche Beschränkungen des internationalen Rechts niederzuwalzen. Reid meinte etwa in seiner Rede Twenty-first Century Warfare - Twentieth Century Rules vor dem Royal United Services Institute, dass man etwa die Genfer Konventionen für die Behandlung mit Kriegsgefangenen angesichts des neuen Feinds verändern müsste. Will Reid hier die Tür für Lager des Typs Guantanamo öffnen, in dem Gefangene praktisch keine Rechte mehr besitzen, dafür aber misshandelt und unbegrenzt festgehalten werden können, will er die vom US-Verbündeten praktizierten Verschleppungen und gezielten Tötungen ermöglichen? So konkret äußerte sich Reid nicht, bezeichnete aber Guantanamo nur als „unbefriedigende Anomalie“ und stellte in Frage, ob man sich denn gegenüber „feindlichen Kämpfern“ genauso verhalten müsse „wie gegen uns selbst“. Das Anrennen gegen die bislang noch bestehenden Beschränkungen der Staatsgewalt, die Mauern der Menschenrechte und das internationale Recht ist symptomatisch für einen gefährlichen Erosionsprozess der demokratischen Rechtsstaatlichkeit durch die Sicherheitspolitiker.
Reid stimmt ein in die Beschwörung, die man mittlerweile von den US-amerikanischen Taktgebern der britischen Regierung kennt. Der neue Krieg gegen den globalen Terrorismus sei nicht nur „viel komplexer“ als alle anderen Kriege zuvor, er konfrontiere uns auch mit neuen Bedrohungen. Kein Wort wird darüber verloren, dass Streitkräfte schon lange mit den Gegnern konfrontiert waren, die Guerillapraktiken verfolgten, zumal wenn es um die Besetzung oder Befreiung von Ländern oder Regionen geht. Neu ist das nicht, schon gar nicht für die britische Armee. Kein Wort auch darüber, dass womöglich die Terroristen eher hätten strafrechtlich und mit polizeilichen Maßnahmen hätten verfolgt werden können, als einen globalen Krieg auszurufen, der noch dazu unter erschwindelten Gründen in ein Land einmarschiert ist und dadurch den Widerstand erst verstärkt hat.
Was den britischen Verteidigungsminister wirklich reitet, wenn er meint, dass mit dem angeblichen neuen Charakter des Krieges die internationalen Abkommen veraltet seien, macht er nicht wirklich klar. Bedenklich ist jedoch, dass der Minister im Namen des Erhalts der Prinzipien „des Rechts, der Demokratie, der Zurückhaltung und des Respekts“ die internationalen Abkommen und die Menschenrechte den neuen Bedingungen „angepasst“ werden müssten. Man fragt sich, warum nach den Gräueln, die Faschismus und Stalinismus sowie andere Völkermorde im letzten Jahrhundert angerichtet haben, ausgerechnet jetzt eine Revision der Genfer Konventionen für den Umgang mit Kriegsgefangenen notwendig sein sollten, zumal es auch im Zweiten Weltkrieg und in den darauf folgenden Kriegen „Terroristen“ oder „Guerilleros“ gekämpft haben. Reid will aber mit dem „internationalen Terrorismus“, also mit dem islamistischen Terror, eine Bedrohung konstruieren, gegen die alle früheren Schrecken und Kriege geradezu verklärt und verharmlost werden.
Der „neue Feind“ handelt weltweit und ist, aufgrund seiner angeblichen religiösen Legitimation, an keine Regeln mehr gebunden. Das scheint dann zur Notwendigkeit zu werden, dass auch die Sicherheitskräfte, die den „neuen Feind“ bekämpfen, ähnlich vorgehen müssen. Natürlich werden auch die Massenvernichtungswaffen von Reid beschworen, die in Reichweite der Terroristen liegen und die Dimension der Massenvernichtung von angeblich in ihrem Verhalten vorhersagbaren Staaten auf Individuen erweitern. Da müsse man das Instrumentarium verändern, was die britische Regierung für die nationale Gesetzgebung bereits vorexerziert habe, indem etwa die Zeit der Inhaftierung, ohne eine Klage zu erheben, ausgedehnt worden ist. Es ist, muss man hinzufügen, allerdings eines der fundamentalsten Rechte eines jeden Rechtsstaats, nicht willkürlich eingesperrt und festgehalten werden und sich gegen eine Anklage vor einem unabhängigen Gericht verteidigen zu können.
Reid erläutert nicht näher, inwiefern die Genfer Konventionen verändert werden sollen, vor allem aber reflektiert er mit keinem Gedanken, wie die vor allem von der US-Regierung praktizierte Aufhebung der Rechte von vermeintlich „feindlichen Kämpfern“ nicht nur zu Folter und anderem menschrechtswidrigen Verhalten geführt, sondern auch den Widerstand verstärkt hat. Ähnlich unbestimmt und unreflektiert – man stellt ja nur Fragen - würde der britische Verteidigungsminister aber auch die Möglichkeiten erweitern, wie ein Staat sich rechtmäßig durch einen präventiven Angriff vor einer drohenden Gefahr verteidigen könne.
Es sei auch faktisch so, dass man nicht mehr nur auf einen Angriff reagiere, sondern man habe bereits präventiv oder „proaktive“ militärische Operationen gegen „asymmetrische Opponenten“ durchgeführt – im Fall des Irak wurde dabei aber gegen das Völkerrecht verstoßen und für die Durchführung hat man die drohende Gefahr durch Massenvernichtung konstruiert. Reid will offenbar den Irak-Krieg nachträglich rechtfertigen, wenn er das internationale Recht auch hier als veraltet darstellt, auch wenn er nur vom Afghanistan-Krieg spricht. Vor allem aber sollen wohl künftig Präventivschläge einfacher zu begründen und schneller durchzuführen sein. Angeführt wird die Möglichkeit von Terrorgruppen, die sich Massenvernichtungswaffen besorgen und Anschläge damit planen.
Als dritten Punkt führt Reid militärische Interventionen in andere Staaten an, in denen die Regierungen ihre Bürger nicht vor „mörderischen Angriffen“ schützen können oder wollen. Reid meint, dass das internationale Recht sich hier ähnlich wie das nationale Recht verändern müsse. So habe ein Polizist früher zwar einen Mann verhaften können, der einen anderen Mann geschlagen hat, nicht aber einen Mann, der seine Frau schlägt. Die UN habe zwar Sondertribunale und den Strafgerichtshof geschaffen, aber das reiche nicht aus, was man daran sehe, dass so wenig für die Menschen in Darfur, Ruanda oder Kongo getan werden. Es sei zwar wichtig, Täter, die Völkermord begangen haben, zu bestrafen, aber das sei nur „ein Teil der Geschichte“. Reid plädiert auch hier für präventive Interventionen. Er fordert aber zu Recht eine Diskussion darüber, wie im internationalen Recht Interventionen, die zumindest vorgeblich zum Schutz der Menschen dienen sollen, besser verankert werden können, um das Eingreifen weniger willkürlich zu machen.
In einem Brief an den Guardian versichert Reid allerdings, er wolle nicht das internationale Recht schwächen, sondern ganz im Gegenteil stärken. Dabei thematisiert er vor allem die „humanitären“ Interventionen und hält sich ansonsten weiterhin im Vagen, weil er schließlich ja nur wichtige Fragen gestellt habe:
In raising questions about the adequacy of the international legal framework in the light of modern developments in conflict, I am suggesting that the body of relevant international rules and conventions should, where beneficial, be strengthened, not weakened. If new agreements to cope with conflict against non-state actors such as the international terrorist will be helpful, we should not shy away from taking the initiative. This means extending, not reducing, such conventions.