Genozid-Jahrestag ohne Abschiebestopp für Überlebende

Seit zehn Jahren leben tausende Jesidinnen und Jesiden als Binnenvertriebene in irakischen Zeltlagern (hier Kinder in Dohuk, 2014). Archivbild: answer5 / Shutterstock.com

IS-Massaker an Jesiden im Nordirak jährt sich zum zehnten Mal. Besiegt ist die Terrormiliz nicht. Schutzsuchende bangen auch in Deutschland.

Die jesidische Community gedenkt heute der dschihadistischen Massaker, die 2014 für kurze Zeit die Weltöffentlichkeit erschütterten: Am 3. August vor zehn Jahren griff die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) die Region Shingal im Nordirak an und ermordete nach UN-Angaben bis zu 5.000 Jesiden und Jesidinnen – vor allem Männer, männliche Jugendliche und ältere Frauen, während mehr als 6.400 jüngere Frauen, Mädchen und Jungen verschleppt und versklavt wurden.

Tausende jesidische Frauen und Kinder weiter verschollen

Manche von ihnen konnten fliehen – wie die heutige Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad – oder wurden befreit, als der IS in die Defensive geriet. Viele der Verschleppten gelten aber bis heute als verschollen – darunter nach Angaben der NGO Save the Children rund 1.300 Kinder. Überlebende berichteten, dass Frauen und Mädchen als Sklavinnen unter anderem nach Saudi-Arabien und Bahrain verkauft worden seien.

In den Wochen nach dem 3. August 2014 stieg die Zahl der Getöteten schätzungsweise auf bis zu 10.000. Bis zu 400.000 Jesidinnen und Jesiden mussten ihre Heimat verlassen.

Ziel des IS war Auslöschung religiöser Minderheit

Ziel der Dschihadisten war es, die jesidische Minderheit im Nahen Osten als Gruppe auszulöschen. Ihre Religion steht aus der Sicht des IS noch weit unter den anderen "Buchreligionen" – während Christen und Juden unter IS-Herrschaft eine "Kopfsteuer" zu entrichten hatten, wurde dem jesidischen Glauben, der auf mündlichen Überlieferungen beruht, jede Existenzberechtigung abgesprochen.

Er steht für islamische Fundamentalisten auf einer Stufe mit Atheismus oder gilt gar als "Teufelsanbetung".

Sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe der Dschihadisten

Neben Vergewaltigung als Mittel der psychologischen Kriegsführung gegen die Gruppe nutzte der IS die Möglichkeit, versklavte Jesidinnen sexuell auszubeuten, als Anreiz für die Rekrutierung neuer Kämpfer in zahlreichen Ländern. Auch westliche, teils deutschstämmige Konvertiten beteiligten sich an IS-Kriegsverbrechen.

Verschleppte jesidische Jungen wurden zum Teil einer Gehirnwäsche unterzogen – mit dem Ziel, sie als Selbstmordattentäter gegen "Ungläubige" einzusetzen, wie der Vorsitzende des Zentralrats der Jesiden in Deutschland, Irfan Ortac, 2018 berichtete.

Warum 2014 Waffenlieferungen an die PKK diskutiert wurden

Der IS hatte nach der Eroberung eines zusammenhängenden Gebietes im Nordwesten des Irak und im Osten Syriens im 2014 die Gründung eines Kalifats verkündet – entschlossener Widerstand schlug ihm im syrisch-kurdischen Selbstverwaltungsgebiet Rojava entgegen.

Für die fliehende jesidische Bevölkerung aus dem Nordirak kämpften im August 2014 neben syrisch-kurdischen Milizen auch Guerilla-Einheiten der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) einen Korridor frei. In Deutschland wurde 2014 für kurze Zeit sogar in Unionskreisen diskutiert, die hier wie in der Türkei verbotene PKK mit Waffen zu beliefern.

Wiedererstarken des IS als reale Gefahr heute

Nach der Befreiung der syrischen IS-Hochburg Rakka galten die Dschihadisten als geschlagen, aber nicht als besiegt. Im Oktober 2023 wurde deshalb auch das Bundeswehr-Mandat für den Irak verlängert. Ein Wiedererstarken des IS gilt demnach als reale Gefahr.

Gleichwohl gibt es keinen bundesweiten Abschiebestopp für Angehörige der Gruppe. Der Verein Pro Asyl geht davon aus, 5.000 bis 10.000 irakische Jesidinnen und Jesiden ausreisepflichtig und somit von Abschiebung bedroht sind. Daran gibt es auch Kritik innerhalb der Ampel-Parteien, vor allem bei den Grünen.

Das Land Nordrhein-Westfalen hat im Dezember 2023 einen zunächst dreimonatigen Abschiebestopp für Frauen und Kinder der jesidischen Minderheit verhängt und im März dieses Jahres um drei weitere Monate verlängert.

Abschiebestopp für jesidische Frauen und Kinder gefordert

Die NRW-Landesministerin Ministerin für Flucht und Integration, Josefine Paul (Bündnis 90, Die Grünen), verlangte im Vorfeld des heutigen Genozid-Jahrestags einen bundesweiten und dauerhaften Abschiebestopp für jesidische Frauen und Kinder.

Paul appellierte an Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), die Betroffenen vor Tod und Verfolgung zu schützen. Nur der Bund könne einen dauerhaften Abschiebungsstopp veranlassen und eine rechtssichere Perspektive für die Betroffenen schaffen, sagte Paul der Deutschen Presse-Agentur in Düsseldorf. NRW habe bereits alle rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft.

Die Chefin der Oppositionspartei Die Linke, Janine Wissler, unterstützt die Forderung und bezieht jesidische Männer mit ein: "Wenn jedes Bundesland weiterhin selbst entscheidet, ob es jesidische Männer, Frauen und Kinder abschiebt oder nicht, verunsichert man die Menschen zusätzlich. Die Jesidinnen und Jesiden verdienen Rechtssicherheit und Schutz", erklärte Wissler an diesem Samstag.

Jesidinnen zwischen Trauma und Kampfeswillen

Zwar haben sich manche Frauen, die der IS-Gefangenschaft entkommen sind, entschlossen, selbst in den Frauenverteidigungseinheiten Shingals (YJS) gegen den IS zu kämpfen. Die kurdische Nachrichtenagentur ANF porträtierte bereits solche Kämpferinnen, die französische Regisseurin Eva Husson setzte ihnen mit "Filles du soleil" ("Töchter der Sonne") ein filmisches Denkmal.

Doch nicht alle Genozid-Überlebenden psychisch und körperlich in der Lage, diesen Weg zu wählen. Einige leiden auch an Posttraumatischen Belastungsstörungen, Angststörungen und Depressionen, wie Prof. Jan Ilhan Kizilhan 2022 in einer Stellungnahme für den Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestags deutlich machte. Im Januar 2023 hat der Bundestag die IS-Verbrechen in Shingal als Völkermord anerkannt.

Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) der Vereinten Nationen (UN) sind immer noch rund 200.000 Jesidinnen und Jesiden Vertriebene im eigenen Land. Manche von ihnen sind demnach obdachlos oder leben in Camps in der Kurdistan-Region des Irak (KRI), in denen es nur mangelhaften Zugang zu Gesundheitsleistungen und Bildung gibt.