Genscher stellt EU-Sanktionen gegen Moskau infrage
Der langjährige deutsche Außenminister kritisiert, dass die NATO Zusagen nicht einhielt, und fordert eine Freihandelszone mit Russland
In der aktuellen Folge der Fernsehsendung Im Dialog (die die Presse vorab sehen durfte) stellt der langjährige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher den Sinn der EU-Sanktionen gegen Russland infrage: Er, so der FDP-Politiker, habe seine "Zweifel, ob wir am Ende sagen werden, das war eine besonders erfolgreiche Unternehmung".
Sanktionen sind Genschers Worten nach "wie eine Leiter": Es geht "immer eine Stufe höher, und auf einmal ist sie zu Ende". Diejenigen, die das Instrument einsetzen, stehen dem 87-Jährigen zufolge irgendwann "vor der Frage, ob sie wieder runterklettern oder runterspringen". Und das möchte der Vermittler der deutschen Wiedervereinigung den Europäern "lieber ersparen".
Außerdem rät der maßgeblich am Aushandeln der KSZE-Schlussakte von Helsinki beteiligte Austragspolitiker seinen aktiven Kollegen zur sprachlichen Mäßigung, weil "starke Worte" seiner Ansicht nach nicht weiterführen und "Aufrüstung oft mit der Aufrüstung der Worte begonnen hat". Zudem, so Genscher, könne auch das russische Volk "Respekt von seinen Nachbarvölkern" erwarten. Überdies müsse die deutsche, europäische und US-amerikanische Politik stärker berücksichtigen, dass die NATO in der Vergangenheit Zusagen verletzte:
Russland hat […] akzeptiert, dass die unabhängig gewordenen Staaten Mitglied der Europäischen Union wurden. Wenn aber dann, zusätzlich zur NATO-Mitgliedschaft, etwas nicht mehr eingehalten wird, was man zugesagt hatte, wie in der NATO-Erklärung von 1997, die besagt, dass man nicht ständige Stationierungen in den neuen Mitgliedsländern vornehmen will, und dann dort Raketenabwehrstellungen gebaut werden sollen, dann bedeutet das eine Veränderung.
Dass die Waffensysteme in Osteuropa "sicher nicht, […] wie vorgegeben wird, gegen Iran aufgebaut werden, sondern dass sie natürlich auch in eine andere Richtung wirksam sind", erklärt Genschers Ansicht das neue russische Misstrauen gegenüber dem westlichen Militärbündnis.
Aber auch ein "gegenseitiges Aufrechnen" würde seinen Worten nach nicht weiterführen. Stattdessen müsse man offen mit Putin sprechen und akzeptieren, dass er die "klare Zielsetzung hat, [für Russland] eine Position zu schaffen, die nichts mehr mit der Schwächeposition eines [Boris] Jelzin zu tun hat".
Weil es dem Erfinder der "aktiven Entspannungspolitik" nach "in Europa keine Stabilität ohne Russland, und erst recht nicht gegen Russland" geben kann, plädiert er dafür, "Politik mit diesem großen Land zu machen". Das könne zum Beispiel in Form einer gemeinsamen europäisch-russischen Freihandelszone geschehen - eine zu den Akten gelegte Idee, die der russische Staatspräsident in einer Bundestagsbesuchsrede vor 13 Jahren ausdrücklich gelobt hatte.
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