Geschichte live erleben
Ein Versuch über die Darstellung von Geschichte im Computerspiel - Civilization IV und Call of Duty II
Geschichte ist im Trend. Und auch der Computerspielsektor nutzt in unzähligen Titeln Geschichte - als Kulisse, als Inspiration oder als Thema. Civilization IV (Firaxis Games) und Call of Duty II (Infinity Ward) haben als herausragende aktuelle Vertreter radikal unterschiedlicher Spielgenres dennoch eines gemeinsam - die Thematisierung von Geschichte.
Noch eines vorweg: Es kann nicht die Absicht sein, zwei derart unterschiedliche Titel wie den Rundenstrategieklassenprimus Civilization IV und den WWII-Egoshooter Call of Duty II einander als Spiele gegenüberzustellen. Doch beiden geht es um Geschichte, im einen Fall um den Versuch einer möglichst "authentischen" Darstellung einer realen, in Form von historischen Ereignissen verlaufenden Geschichte (CoD II), im anderen abstrahiert um den "Vorgang Geschichte" oder das, was gemeinhin mit diesem Vorgang assoziiert wird. Und während in Civilization IV zum vierten Mal der ambitionierte Versuch unternommen wird, über 5000 Jahre "Zivilisation" zu zeigen und spielbar zu machen, erstreckt sich der in Call of Duty II erzählte geschichtliche Zeitraum auf wenige Stunden "Echtzeit", die in einen ganz konkreten historischen Kontext gebettet sind. Im Folgenden soll untersucht werden, wie in diesen beiden Extrempositionen Geschichte vermittelt wird.
Dass der Anspruch, Geschichte auf die eine oder andere Art zu "simulieren"(einmal als Vorgang, einmal als Ereignis), in beiden Fällen unzulänglich bleibt, hat mit den Genregrenzen des Spiels einerseits und andererseits mit der unklaren Bestimmbarkeit dessen zu tun, was das letztlich abstrakte Konzept "Geschichte" eigentlich ist. Lässt man die scheinbare Unzulänglichkeit des Mediums Computerspiel in diesem Bereich einmal außer Acht - vor allem, da an ein Spiel per se ja andere Anforderungen gestellt werden als an andere Kunstwerke, vor allem das einer unterhaltsamen und erzählerisch sinnvollen Interaktionsmöglichkeit -, so erscheint bei der Beachtung des zweiten Themenkomplexes - was wird als Geschichte dargestellt - ein interessanter Unterschied der Interpretationsansätze im Spiel.
Vom Tellerwäscher zum Millionär in 5000 Jahren
Civilization IV, bisher letzter Teil der erfolgreichen und mit Preisen überhäuften Reihe von Sid Meier, ist - vereinfacht gesagt - Geschichtsbild und Geschichte, wie sie seit den Anfängen der Geschichtsschreibung verstanden wird, also seit Herodot im 5. Jahrhundert vor Christus: große Herrscher, große Reiche, große Schlachten, exotische Bräuche.
Gleich diesem klassischen, uns allen geläufigen Geschichtsbild manifestiert sich in Civilization IV jene Geschichtsauffassung, die den ständigen Fortschritt hin zu den Gegebenheiten der Gegenwart behauptet. Es ist - auch der Genrebeschreibung "Aufbauspiel" geschuldet - eine Geschichtsphilosophie des permanenten Aufsteigens, in Civilization IV am deutlichsten ersichtlich im "Forschungsbaum" der zu entdeckenden Technologien. Ein Beispiel: Durch die primitiven Kulturtechniken "Landwirtschaft" und "Fischen" gelangt man in der Antike zur "Schrift", von da zum "Alphabet" und zur "Mathematik", zu "Literatur", zum "Drama" sowie zur "Philosophie", von hier aus über den Umweg "Göttliches Recht" zum "Nationalismus" zur "I. Verfassung" und dann zur "Demokratie". Der "Forschungsbaum" umfasst insgesamt 86 Technologien, die im Spielverlauf nicht völlig linear erforscht werden und entweder neue Gebäude, neue Einheiten oder neue Gesellschaftsformen oder Religionen (eine der wenigen wirklichen Neuheiten gegenüber den Vorgängern) ermöglichen.
Das Spielprinzip selbst - seit Civilization I (1991) hat sich nur wenig grundlegend verändert - stellt somit Geschichte als kontinuierliche Entwicklung vom Einfachen zum Komplexen, ohne Brüche oder Sackgassen, dar, als "Erfolgsstory", die ein "Volk" von der Steinzeit bis zur Weltraumfahrt führt. Dem Spiel als Spiel kann nichts oder nur Kleinigkeiten vorgeworfen werden - es macht Spaß, ist optisch ansprechend, gut ausbalanciert und überaus komplex und bis zur Sucht motivierend. Doch weil sich Civ IV mit seinen unzähligen populärwissenschaftlichen Häppchen "echter" Geschichte fast schon als Edutainment light oder zumindest als demonstrativ "erzieherisch wertvoll" darstellt, bleibt undeutlich, dass hier nicht Geschichte, sondern nur Geschichtsideologie gezeigt wird.
Dass sich die "Anführer" oder Sprecher der verschiedenen Völker als über Jahrtausende hinweg nur in der Kostümierung verändernde "great leaders" präsentieren - für die Griechen Alexander der Große, für die Russen Katharina die Große, bei den Römern Cäsar, bei den Deutschen Bismarck oder Kaiser Friedrich und so fort -, ist natürlich eine spieltechnisch notwendige Maßnahme, die aber dennoch auf das traditionelle Geschichtsbild vom "Leben großer Männer" verweist. Auch dass sich die Geschichte eines einzigen "Spielvolks" bruchlos von 5000 vor bis 2100 nach Christus erstreckt, ist eine vielleicht auch notwendige Grundvoraussetzung des Spiels, könnte aber auch als unbekümmerte Festschreibung von Geschichtsstereotypen und Missverständnissen (auch bezüglich ethnischer und nationaler Identitäten) ausgelegt werden.
Die spielerische Fixierung auf den "Erfolg" einer Zivilisation als Schicksalsgemeinschaft, die sich in wirtschaftlicher, kultureller oder militärischer Dominanz bis in die Gegenwart ableiten lässt, erinnert außerdem deutlich daran, dass hier - wie so oft - eine Geschichte der Sieger erzählt wird. Wer im Jahr 2005 nicht über hoch entwickelte Technologie, Kultur und Wirtschaftskraft verfügt, hat offensichtlich etwas falsch gemacht. Für ein Geschichts- und Realitätsmodell, mit dem man Civilization (ähnlich dem Kleinbürgerkapitalisten-Aufsteiger-Epos "The Sims") im weiteren Sinne durchaus verwechseln könnte, ist das dann doch etwas problematisch, im Sinne einer vernünftigen Spielmechanik jedoch unvermeidlich. Dass das Volk der "Amerikaner" schon in der Steinzeit mit einem in Felle gehüllten Abraham Lincoln aufwartet, zeigt aber wiederum, dass natürlich auch hier wie bei Maxis der Humor der Spieldesigner mit diesen Unzulänglichkeiten umzugehen weiß.
Klar - Civilization IV stellt selbst natürlich nicht den Anspruch, "realistisch" zu sein. Es ist ein Sandkasten, in dem mit vereinfachten Regeln eine Variante von Geschichte gespielt wird. Ein Sonderfall wären hier die Szenarien oder die "historischen Kampagnen" vor allem im Civilization-III-Addon "Conquests" (2003), in denen dezidiert spielmechanische Anpassungen ein "historischeres" Spielen ermöglichen sollten. Der mögliche Vorwurf, Civilization IV propagiere eine als überholt anzusehende, missverständliche Form von Geschichtsideologie und trage somit - gegen die womögliche Intention von Eltern und Pädagogen - eher zur Desinformation zum Thema Geschichte bei, greift natürlich zu kurz, da - zynisch gesprochen - unter Umständen schon die aus dem Spiel gewonnene Erkenntnis, dass es all die in Videos und Texten erwähnten "Weltwunder" wie die Sixtinische Kapelle oder die Bibliothek von Alexandria "tatsächlich" gibt oder gegeben hat, einen nicht zu verachtenden Beitrag zur Bildung des Spielers leisten kann.
Gerade die Vermischung von Faktenhäppchen mit der populären und vereinfachenden Ideologie von Geschichte zeigt sich ja ohnedies seit jeher und auch heute noch im Großteil der sonstigen medialen und schulischen Behandlung des Themas. So fügt sich Civilization IV mit seinem "Modell" von Geschichte recht nahtlos in jenes undifferenzierte Geschichtsbild ein, das Geschichte auf die mehr oder weniger geradlinige Entwicklung vom Einfachen zum Komplexen, auf die "Entscheidungsgeschichte" einiger weniger Herrscher oder Nationen reduziert - die Spielmechanik verlangt´s.
15 Minuten Weltkrieg
In Call of Duty II zeigt sich ein anderer, denkbar verschiedener Ansatz, das Thema Geschichte im von Pädagogen und Eltern weit weniger geliebten Genre des Egoshooters darzustellen. An dieser Stelle ist ein kurzer Einschub zum Problemfeld "Gewalt" unausweichlich. Natürlich: Call of Duty II ist kein Geschichtsunterricht und kann und darf nicht die Beschäftigung mit und die schulische sowie gesellschaftliche Aufklärung über den Zweiten Weltkrieg ersetzen - ebenso wenig, wie Civ IV eine Beschäftigung mit Geschichte ersetzen kann. Um es kurz auf den Punkt zu bringen: Die Legitimität oder Moral, aus historischem Kriegsgeschehen Unterhaltung zu machen, kann und soll in diesem Artikel nicht diskutiert werden.
Interessanter erscheint hier die Behandlung von Geschichte als Realie und Kulisse, und die Individualisierung, die sich auch aus der Spielmechanik des Egoshooters ergibt. Denn wie kein anderes Genre ist es geeignet, sein Thema zu "vergegenwärtigen" und erlebbar zu machen. CoD II zeigt quasi "Geschichte von unten", "History in the Making", indem es den Spieler als in seiner Handlungsfähigkeit beschränktes Individuum in Situationen zeigt, die "Geschichte machen" - im Vorgänger Call of Duty I (Infinity Ward 2003) etwa bei der russischen Eroberung des Reichstags in Berlin oder bei der Landung an Omaha Beach in der Normandie. An dieser Stelle sei auf die berühmte Eingangssequenz von "Saving Private Ryan" (Steven Spielberg, 1998) verwiesen, die die Landung der Alliierten in der Normandie als chaotisches, barbarisches Inferno darstellt. Diese Szene ist für viele historische Shooter als direktes Vorbild in Sachen Ästhetik und auch Kompromisslosigkeit dem Spieler gegenüber zu nennen (und findet sich etwa auch beim etwas älteren Genrekollegen Medal of Honor: Allied Assault von 2002) - wie überhaupt Spielfilme zum Thema Zweiter Weltkrieg als Hauptinspiration für viele Szenen auszumachen sind.
Der unterschiedliche Umgang mit Geschichte, bedingt durch den unmittelbaren, singulär verorteten Zeitpunkt des Geschehens, zeigt sich im auf Schaueffekte und Realismus bedachten Subgenre des historischen Egoshooters an der Wichtigkeit einer ehemaligen "Hilfswissenschaft" der Geschichte, der Realienkunde, die zunächst ohne Interpretation in sichtender Beschreibung "Realien" sammelt und sich darauf beschränkt, die "Vielfalt menschlicher Lebensgestaltung" anhand der materiellen Kultur zu untersuchen. Das Ziel, das Call of Duty II in seiner spezifischen geschichtlichen Verortung anstrebt, ist das der möglichst hohen "Authentizität" der geschichtlichen Realien - nicht so sehr im Spielgeschehen selbst, als vielmehr in der Simulation von Gelände, Ausrüstung, Technologie, Aufgabenstellung, Taktiken. Selbstverständlich ordnet sich dieser historische Realismus den Spielmechanismen unter; selbstverständlich wird keine historische Realität in der individuellen, spezifischen Handlung des Spielers abgebildet. Dennoch verwendet CoD II wie sein Vorgänger historische Orte und Ereignisse und versucht, sie möglichst realistisch erlebbar zu machen - in Form von Architektur, Gelände, Ausrüstung der Konfliktparteien, Sichtweite und Wetterverhältnissen, strategischer Vorgehensweise und so weiter.
Auch das eigens programmierte "Battle Chatter System", das die Kommunikation aller Soldaten auf dem Schlachtfeld simuliert, trägt viel zum Realismusgefühl des Spiels bei. Dass die deutschen Gegner zwar Deutsch, die russischen Teamkollegen jedoch gebrochenes Englisch sprechen müssen, ist ebenso ein Zugeständnis an die Spielmechanik wie die jedem Realismusanspruch Hohn sprechende Überlebensfähigkeit des Spielers in den Schlachthöllen, die das Spiel inszeniert. Die ausschließlich zwischen den Missionen zu sehenden filmischen "Zwischensequenzen" haben hauptsächlich die Funktion, den Spieler in seiner spezifischen historischen Situation zu verorten. In historischen Filmaufnahmen, Wochenschaubildern und anhand tatsächlicher geschichtlicher Ereignisse wird die historische Realität bestimmt, in die der Spieler als relativ anonymes Individuum geworfen wird: in den gewaltigen und gewalttätigen Vorgang der Geschichte.
Eine persönliche, individuelle Geschichte, eine "Story", die die historischen Schauplätze miteinander verbindet, wird nur ganz minimalistisch in den als Bildschirmhintergrund beim Laden sichtbaren Tagebuchseiten der jeweiligen Hauptfiguren erfahrbar. Denn ein weiterer Ansatz des Spiels ist es, nicht eine, sondern drei Hauptfiguren zu haben, einen amerikanischen, britischen und russischen Soldaten. Das ermöglicht CoD II die Darstellung unterschiedlicher Schauplätze und Umgebungen, ohne eine ausgeklügelte Story zu bemühen. Durch diesen Kunstgriff - der Spieler ist kein außergewöhnlicher Held, sondern nimmt den Platz eines, so scheint es, beliebigen Soldaten in einer großen historischen Situation ein - und durch die penibel genaue Bestimmung von Ort und Datum des Geschehens am Beginn jeder Mission betont CoD II den Anspruch, eher "die" Geschichte darzustellen, als "eine" Geschichte zu erzählen. Das individuelle Erleben - der genrebestimmende Blick durch die Augen einer Figur - wird ohne Abstraktion zur unmittelbaren Erfahrung einer Geschichtskulisse; ein methodisch größerer Gegensatz zum gottgleichen Schweben über den Dingen wie in Civ IV ist schwer vorstellbar.
Einmal gottgleiche Feldherrensicht, einmal die Froschperspektive auf das Thema Geschichte - der Umgang mit Geschichte in Computerspielen ist heterogen und natürlich vor allem durch das jeweilige Spielgenre und seine Beschränkungen und Möglichkeiten geprägt. Ein einzelnes mögliches "Missing Link" zwischen den ansonsten unversöhnbar erscheinenden Beispielen Civ IV und CoD II sei aus der großen Masse an Spielen mit geschichtlichem Hintergrund abschließend noch erwähnt: In Rome: Total War (Creative Assembly, 2004) kann der Spieler sowohl als Rundenstratege über den Dingen schweben, als auch die imposant dargestellten Schlachten in Echtzeit aus nächster Nähe verfolgen und befehligen - Abstraktion von und Immersion in Geschichte in einem. So weit wie die Egoshooter geht "Rome", dessen Erweiterung Barbarian Invasion auch seit kurzem in den Läden steht, in seiner Unmittelbarkeit aber nicht.