Gesellschaft ohne Vertrauen: Die German Angst ist zurück

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Das WM-Aus zeigt ein Muster – über den Fußball hinaus: Deutschland ist gelähmt und verzagt. Systemwut und Selbsttäuschung stehen der Gesellschaft im Weg. Daraus kann man eine Lehre ziehen.

Das Aus bei dieser WM schmerzt gewaltig.

BR

Lena Oberdorf kam leider nicht aus der Tiefe des Raumes. Denn diese Tiefe gab es gar nicht.

Die Räume waren eng und zu, nichts war frei. Und das Korsett, in dem die deutsche Damen-Fussball-Nationalmannschaft gefangen war und langsam erstickte, das hatte sie sich selbst geschnürt.

Jetzt sind sie ausgeschieden. Raus schon in der Vorrunde. Zum allerersten Mal ist eine deutsche Damen-Nationalmannschaft in der Gruppenphase ausgeschieden. Das wäre nicht weiter schlimm, sondern ein Malheur, wie es eben mal vorkommt wenn es nicht in letzter Zeit so oft und gehäuft und an den verschiedensten Stellen und in den verschiedensten Bereichen vorkommen würde.

Beratungsresistenz

Es hat ganz offensichtlich System – weit über den Fußball hinaus. Der deutsche Fußball ist nur ein Beispiel für die Lähmung unserer Gesellschaft und ihrer Institutionen. Für ihre Reformunfähigkeit. Für eine seit Jahrzehnten andauernde Beratungsresistenz, die irgendwann zu Komplettversagen und An-die-Wand- fahren führen muss.

Die schreckliche Kombination aus Bedenkenträgerei vorher und Ausreden hinterher, wenn es dann schiefgegangen ist, ist fatal. Man erlebt sie allerorten.

Fußball hat schon immer wie unter einem Brennglas verleugnete, verdrängte und vergessene Tiefenschichten des Bewusstseins sichtbar gemacht. Was wir an diesem Donnerstag erlebt haben: Die German Angst ist zurück.

Stop-and-go: "Geht's noch Deutschland?"

Deutschland ist eine einzige Großbaustelle. Deutschland steckt im Stau.

"Wenn man das jeden Morgen hat, dann ist man nicht mal sauer man ist doch nicht wütend oder so es ist so eine verzweifelte Resignation" so beschreibt Christian Sievers im ZDF dieses Gefühl des Mehltaus, der die ganze deutsche Gesellschaft erfasst hat. Stop-and-go: "Geht's noch Deutschland?"

Sievers tut das in der neuen, sehr sehenswerten Folge der Doku-Reihe "Am Puls" und fragt "Vielleicht stehen wir uns ja auch selbst im Weg?"

Denn nicht nur in deutschen Behörden staut sich der Fortschritt. Nahezu alle Bereiche des deutschen Lebens sind penibel geregelt, totbürokratisiert und verumständlicht bis zur Lebensfeindlichkeit. Sievers besucht zum Beispiel zum Vergleich einen italienischen Schnellzug, das Gegenstück zum ICE.

Ein Beispiel für die Selbsttäuschung der Deutschen, die ja wirklich noch immer glauben, ihr ICE sei toll, und die Bahn der mediterranen Schlawiner selbstverständlich verschmutzt und unpünktlich.

Das Gegenteil ist der Fall: Die italienischen Schnellzüge sehen schick aus, sind auf die Minute pünktlich, die Preise liegen um 40 Prozent niedriger, der Service ist wesentlich besser als in Deutschland. Und billiger: Der Espresso, der natürlich viel besser schmeckt als sein Pendant im "Board Restaurant" der Bundesbahn, kostet vom Automaten, der in jedem Wagen steht, nur 1,20 Euro.

"Am Schluss sind alle Partikularinteressen erfüllt – aber das Projekt ist gestorben"

Zweites Beispiel: Der Architekt Wolfgang Frey, der Großprojekte in China durchführt, aber auch gern in seiner baden-württembergischen Heimat ein Porschewerk bauen würde, sagt im ZDF-Film:

Wir haben in Deutschland ein hohes Bewusstsein für die Schutzwürdigkeit von vielen Dingen, von Personengruppen, von der Natur und so weiter. Dafür gibt es natürlich Vorschriften und Paragrafen, die wir einhalten müssen.

Das Problem ist, dass alles oft in Partikularinteressen zerfällt. Und wir in Deutschland eigentlich niemanden haben, der die Dinge zusammenbringt. Das ist scheinbar ein deutsches Phänomen. Interessanterweise ist es ja so: Die einzelnen Personen sind sehr engagiert in ihrem Thema, sind vielleicht sogar sehr professionell, aber umso mehr sie für ihr Thema kämpfen, umso mehr neigen sie dazu, einäugig nur ihr Thema zu sehen, und diesen Kompromiss nicht mehr schaffen zu können.

Es ist oft so, dass wir lange mit Vertretern verschiedener Partikularinteressen zusammensitzen, und am Schluss sind alle Partikularinteressen erfüllt – aber das Projekt ist gestorben. Ich mache mir für Deutschland Sorgen.

Sievers erzählt viele Geschichten über Bedenken, Hürden, Stillstand – "Deutschland satt und matt als Land des kleinsten gemeinsamen Nenners."

Ohne Mut, aber mit Regelwerk.

Die Scheu, Klartext zu reden

Zurück zum Fußball.

Die Herren-Nationalmannschaft ist zweimal hintereinander in der WM-Vorrunde ausgeschieden. Ein beispielloser Vorgang. Vor vier Wochen die U-21 bei der Europameisterschaft als amtierender Titelträger. Jetzt die Frauen, die eigentlich noch von der großartigen EM vor einem Jahr beflügelt sein müssten.

Überall ist Krise im deutschen Fußball. Man kann es deswegen nicht schönreden, mit den beliebten Ausreden, die jeder Fußballinteressierte im Schlaf herunterbeten kann: "Wir waren eigentlich doch die Besseren"; "Wir hatten mehr Chancen"; "Wir waren ganz gut" "Wir haben das Spiel über weite Strecken kontrolliert."; "Wir waren in der Box"; "Wir hatten viele Chancen"; "Dieses und jenes Tor wurde nicht gegeben" "Beim Gegentor gab es den und den individuellen Fehler" – das sind alles Ausreden.

Die sogar stimmen mögen im Einzelfall. Aber wenn der Einzelfall systematisch wird, dann stimmen die Ausreden eben nicht mehr.

Irgendwann muss man die Dinge beim Namen nennen. Irgendwann kann man nicht mehr "entwickeln".

Die Scheu, Dinge beim Namen zu nennen, die Scheu überhaupt Klartext zu reden und unbequeme Themen anzusprechen und sich über sie sachlich zu streiten, ohne alles persönlich zu nehmen oder nur ums eigene Image bemüht zu sein, kennzeichnet das Deutschland dieser Jahre.