Gesetzeslose Soldaten – von Kunduz bis Bounti

F-15 beim Abwurf von JDAM-Bomben über Afghanistan. Bild: U.S. Air Force. Flagge des Internationalen Strafgerichtshofs. Bild: Foreign and Commonwealth Office / CC-BY-2.0 / Fotomontage: TP

In allen Kriegen töten Soldaten völkerrechtswidrig Zivilisten. Geahndet wird das fast nie. Regierungen finden stets neue Wege, um Strafen zu vermeiden

Am 5. Januar 2021 schoss ein französischer Helikopter in eine Menschenmenge in Zentral-Mali und tötete dabei rund 20 Gäste einer Hochzeitsfeier. Das berichteten Bewohner des nahegelegenen Dorfes Bounti der französischen Nachrichtenagentur AFP.1 Frankreichs Regierung bestreitet jedoch, dass Zivilisten getötet wurden. Drohnen hätten – je nach Quelle eine Stunde bis Tage zuvor – Informationen gesammelt, anhand derer die Getöteten als Terroristen ausgemacht worden seien. Tabital Pulakuu, eine transnationale Organisation zur Förderung der Kultur der ethnischen Gruppe der Fulani, und Berichte der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen bestätigten hingegen die Aussagen der Dorfbewohner.2

Es steht also Aussage gegen Aussage. Wehren kann sich die verarmte Bevölkerung gegen die Angriffe aus der Luft kaum. Doch selbst wenn die lokale Bevölkerung mit der Unterstützung von international agierenden Menschenrechtsorganisationen auf Anerkennung und Entschädigung ihrer zivilen Opfer klagte, wäre dies wenig aussichtsreich. Dies zeigte unlängst das Scheitern einer ähnlichen Initiative in Deutschland.

Am 16. Dezember 2020 bestätigte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) einen Urteilsspruch des Bundesgerichtshofs von 2016: Die Angehörigen ziviler Opfer der Tanklaster-Bombardierung im afghanischen Kundus hätten kein Recht auf Entschädigung. (Streit um Bombennacht von Kundus dauert an)

In der Nacht vom 2. auf den 3. September 2009 hatte der damalige Bundeswehr-Oberst Georg Klein zwei von Taliban entführte Tanklaster bombardieren lassen, die in einer Furt feststeckten. Bei dem Angriff starben rund 140 Menschen, der größte Teil davon Zivilisten, die sich Benzin aus den festgefahrenen Tankwagen abzapfen wollten.

Klein fürchtete wohl, dass die – tatsächlich bewegungsunfähigen – Tanklaster als fahrende Bomben gegen das nahe Bundeswehrcamp eingesetzt werden könnten. Er habe mit der Bombardierung der Laster inklusive der umgebenden Menschenmengen daher keine Amtspflichtverletzung begangen, urteilte nun das Bundesverfassungsgericht.

Er habe vielmehr alle zur "Verfügung stehenden Erkenntnisquellen ausgeschöpft" und "bei der notwendigen Ex-ante-Betrachtung eine gültige Prognoseentscheidung getroffen."3

Das Bundesverfassungsgericht widerspricht damit zwar dem Bundesgerichtshof, der Schadensersatzzahlungen für Amtspflichtverletzungen in militärischen Auslandseinsätzen grundsätzlich verneinte.4 Da Klein jedoch auf Geheimdienstquellen verwies und angab, nichts von Zivilisten gewusst zu haben, ist er aus dem Schneider.5

Auch innerhalb des Verteidigungsministeriums scheint der "Patzer", der in den tödlichsten deutschen Angriff seit dem Zweiten Weltkrieg mündete, nicht für besonders schlimm befunden worden zu sein: 2013 wurde Klein Abteilungsleiter im neuen Bundeswehramt für Personalmanagement und damit zum Brigadegeneral befördert.

Das Bombardement, das innerhalb der Nato angesichts fehlender Absprachen mit dem Isaf-Kommando und der falschen Anzeige eines Angriffs auf Bündnistruppen kritisiert wurde, ist keinesfalls der einzige Fall von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen im tödlichsten Konflikt unserer Zeit, dem Krieg in Afghanistan.

Überall Fronten gegen Strafverfolgung im Fall von Kriegsverbrechen

Tatsächlich gibt es starke Indizien für Kriegsverbrechen durch alle Kriegsparteien. Neben Deutschland wurden auch Verfahren gegen Militärs aus anderen westlichen Staaten angestrebt oder sind anhängig; dies betrifft die USA, Australien und Großbritannien. Aber auch dort stellen sich Politiker meist schützend vor die Soldaten.

In Australien wird seit 2016 gegen Mitglieder der Spezialeinheit SAS ermittelt, denen Exekutionen unbewaffneter Afghanen vorgeworfen werden. Ehemalige Mitglieder der Spezialeinheit hatten diese Vorwürfe erhoben. Geleaktes Videomaterial von solchen Erschießungen wurde von der Nachrichtenagentur ABC veröffentlicht und kursiert seitdem in sozialen Medien.6

In der Annahme, dass die Aufnahmen der Helmkameras nie an die Öffentlichkeit dringen würden, rückten die Verantwortlichen die Vorfälle auf Papier in ein regelkonformes Licht. Den Toten wurden zum Teil mitgebrachte Waffen auf die Brust gelegt, um sie als Kämpfer darzustellen.

Neu angekommene Soldaten wurden auf den Korpsgeist der Verschwiegenheit eingeschworen und mitunter gezwungen, selbst (illegale) Hinrichtungen von Gefangenen durchzuführen. Diese Taufe mit dem Blut von Wehrlosen wurde in der Truppe "Blooding" genannt.

Nachdem rund vier Jahre lang in 55 Vorfällen zwischen 2005 und 2016 ermittelt wurde und hunderte Zeugen aus afghanischen Dörfern sowie aus den australischen Streitkräften befragt wurden, listet der im November 2020 veröffentlichte Bericht der internen Ermittlungen, der sogenannte Brereton-Report, 39 Morde an afghanischen Zivilisten auf. Die Verfasser empfahlen polizeiliche Ermittlungen gegen 19 der 25 beteiligten Soldaten.

Hohe Generäle und Politiker sind nun notwendigerweise bestürzt, kritisieren die Soldaten und entschuldigen sich bei den Angehörigen der Opferm der afghanischen Bevölkerung und ihren Vertretern. Zuvor waren z.B. der ehemalige Premier Tony Abott und der ehemalige Verteidigungsminister Brendan Nelson den Elitesoldaten, von denen einer mit den höchsten Orden ausgezeichnet worden war, zur Seite gesprungen. Man müsse vorsichtig sein, "Soldaten, die in der Hitze des Gefechts handeln, mit denselben Maßstäben wie Zivilisten zu beurteilen".7

Dem nicht genug: Im Juni 2019 führte die Polizei eine Razzia im Gebäude der ABC durch. Die Ermittlungen gegen den führenden Journalisten der sogenannten Afghan-Files wegen Geheimnisverrats wurden kurz nach der Veröffentlichung des Berichts, im Dezember 2020, wegen fehlendem öffentlichen Interesse eingestellt.

Noch weiter fortgeschritten ist die Kriminalisierung der Ermittlungen von Kriegsverbrechen in den USA. Als der Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag im März 2020 Ermittlungen zu zwischen 2003 und 2014 begangenen Kriegsverbrechen in Afghanistan einleitete, lehnten die US-Regierung dieses Vorgehen energisch ab. Trumps damaliger Justizminister William Barr beschuldigte den ICC der Korruption. Das Gericht sei Teil einer von Russland und "internationalen Eliten" ausgehenden Verschwörung.8

Dass in dem Verfahren hauptsächlich gegen die Taliban und die afghanische Armee ermittelt wird, lässt diese ohne Beweise vorgebrachten Anschuldigen zweifelhaft erscheinen. Doch obwohl die USA dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs nie beigetreten sind, richten sich die Ermittlungen auch gegen US-Soldaten, die Verbrechen in Afghanistan sowie in CIA-Foltergefängnissen in Polen, Rumänien und Litauen begangen haben sollen. Dies ist möglich, da auch Personen aus Nichtunterzeichnerstaaten verfolgt werden können, wenn die mutmaßlich Verbrechen auf dem Boden von Mitgliedsstaaten des Römischen Statuts begangen worden sein könnten.

Doch so etwas wollen die USA gar nicht erst einreißen lassen. Anstatt sich zu den Menschenrechten und der Rechtsstaatlichkeit zu bekennen, verhängten sie Wirtschaftssanktionen und Einreiseverbote gegen die zuständigen Ermittler des ICC.

Massives Vorgehen gegen Whistleblower und WikiLeaks

Dies überrascht nicht, wenn man bedenkt mit welcher Härte und List gegen Chelsea Manning und Julian Assange vorgegangen wurde. Manning hatte – damals vor einer Geschlechtsanpassung noch als Whistleblower Bradley Manning – Dokumente und Videos über Kriegsverbrechen der US-Armee im Irak und in Afghanistan der von Assange gegründeten Plattform WikiLeaks zugespielt.

Mannings wurde 2013 zu 35 Jahren Haft verurteilt, 2017 jedoch von dem damaligen Präsidenten Barack Obama begnadigt. Nicht so Assange, der immer noch im britischen Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh einsitzt, weil die USA gegen das Urteil, das eine Auslieferung in die USA am 4. Januar 2021 ablehnte, Berufung einlegten.

Aufgrund der psychischen und körperlichen Belastung durch die Haftjahre sei Assanges Leben im Falle einer Auslieferung in Gefahr, so die Richterin in London in der Urteilsbegründung (Vater von WikiLeaks-Gründer Assange sieht Bundesregierung in der Pflicht). In den USA drohen Assange bis zu 175 Jahre Haft für die Veröffentlichung von Beweismaterial für US-Kriegsverbrechen.

Während Whistleblower aufs Härteste verfolgt werden, begnadigte Donald Trump kurz vor Weihnachten 2020 vier der Kriegsverbrechen beschuldigten Söldner der Sicherheitsfirma Blackwater. Sie hatten im sogenannten Nisour-Platz-Massaker im Irak scheinbar wahllos mit schweren Geschützen auf Autos und Busse geschossen und dabei mindestens 14 Zivilisten getötet, darunter Kinder und eine Frau, die lebendig in einem Auto verbrannte. Die vier hätten "lange im Dienst für die Nation" gestanden, so Trump zur Begnadigung.9

Das Hochkommissariat für Menschenrechte der Vereinten Nationen verurteilte die Begnadigung hingegen als "Affront gegen die Gerechtigkeit und die Opfer des Nisour-Platz-Massakers sowie ihre Familien" und nannte es eine Verletzung der nach internationalem Recht gültigen Pflicht, Kriegsverbrecher zur Verantwortung zu ziehen.10

Während die USA von Fall zu Fall die Strafverfolgung ihrer Kriegsverbrecher sanktioniert, geht das Vereinigte Königreich noch weiter und schafft derzeit ein Gesetz, das eine solche Verfolgung extrem erschweren soll. Mit dem Overseas Operations Bill, das gerade in der zweiten Kammer des britischen Parlaments, dem House of Lords, diskutiert wird11, sollen Verbrechen, die im Einsatz für Staat und Streitkräfte außerhalb der britischen Inseln geschehen sind, nach fünf Jahren nicht mehr strafbar sein.

Dieses Gesetz würde nun rückwirkend auch die Verfolgung der in Afghanistan und im Irak geschehenen Kriegsverbrechen verhindern – und zwar nicht nur vor britischen, sondern auch vor internationalen Gerichtshöfen. Das Verteidigungsministerium nannte als Grund für das Gesetz an erster Stelle auch den Wunsch, zivile Schadensersatzzahlungen von Gefolterten und unrechtmäßig Inhaftierten zu stoppen, wofür das Ministerium bis 2017 rund 22 Millionen Pfund ausgeben musste. Außerdem beinhalte es die Forderung an Regierungen, "Ausnahmen" der Menschenrechte in Erwägung zu ziehen, sollte dies die "operationelle Effektivität" erhöhen.12

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