Gespaltenes Volk bei türkischen Jahrhundertwahlen
Die Türkei hat gewählt. Ein Bericht über die Stimmung in Istanbul, über Begegnungen mit Wählern in einer geteilten türkischen Gesellschaft.
Von Jahrhundertwahlen ist in der Türkei die Rede gewesen, als die gestrigen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen über die Bühne gegangen sind. Diese Bezeichnung resultiert weniger aus der unzweifelhaften Spannung um den Wahlausgang, sondern auch aus der Tatsache des in diesem Jahr stattfindenden 100. Jahrestags der Gründung der Türkischen Republik.
Das gesamte Volk schaute gespannt auf die Wahlergebnisse, da dem Führer der vereinten Opposition Kemal Kılıçdaroğlu die seit Jahrzehnten größte Chance auf eine Ablösung des autokratisch regierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zugetraut wurde.
Der Präsident verfügt über sehr große Macht
Es zeichnet sich bereits ab, dass die beiden polarisierenden Kontrahenten um das Präsidentenamt am 28. Mai in eine Stichwahl müssen, da keiner im ersten Wahlgang die absolute Stimmenmehrheit erhielt. Beide teilten nahezu vollständig das türkische Wahlvolk zwischen sich auf; die beiden übrigen Kandidaten kamen zusammen auf weniger als sechs Prozent der Stimmen.
Die Wahl wird auch mit großer Spannung verfolgt, da der türkische Präsident seit einer von Erdoğan im Jahr 2017 durchgesetzten Verfassungsreform über nahezu unbegrenzte Machtbefugnisse verfügt. Er kontrolliert Parlament, Armee und Justiz, nur eben nicht die Wahlen an sich.
Das zeigte sich deutlich 2019, als Vertreter der vereinten Opposition bereits die Bürgermeisterämter der vier größten Städte des Landes, darunter Istanbul und Ankara, für sich gewannen. Diese Erfolge machten Hoffnung auf einen Wechsel an der Führungsspitze des türkischen Staates.
Konservative: Erdoğan "gab uns unsere Würde zurück"
Die Wahlen verliefen vom allgemeinen Eindruck vor Ort ruhig, auch wenn deutsche Schlagzeilen von einigen Manipulationsvorwürfen zugunsten Erdoğans beherrscht wurden. Auf den Straßen von Istanbul war viel Polizei zu sehen, jedoch keine Barrikaden oder Absperrungen, wie sonst vor großen Kundgebungen und Protesten.
Auch in der sonst eher liberalen Großstadt sind Anhänger Erdoğans zu treffen. "Er gab uns unsere Würde zurück. Das Recht, unsere Religion frei auszuüben", erklärte ein älterer Mann gegenüber Telepolis, der aber nicht namentlich genannt werden will.
"Früher war es möglich, nackt auf der Straße herumzuspazieren, aber den Frauen war es verboten, ihren Kopf nach den Regeln des Islam zu bedecken", sagte er weiter. Seine Frau hat der Erdoğan-Anhänger dabei, gehüllt in einen Çarşaf, die türkische Version eines muslimischen Gewandes.
Vertreter solcher konservativen Ansichten sind die Hauptbasis von Erdoğan. Sie sind ihm bis heute dankbar für die Aufhebung des Kopftuchverbots in Verwaltungs- und Bildungseinrichtungen im Jahr 2013 sowie für sein Engagement für den Bau von Moscheen. Von 2002 bis 2022 stieg die Anzahl der Moscheen in der Türkei um etwa 18 % – von 76.000 auf 90.000.
Erdoğan gilt seinen Anhängern als Garant nationaler Interessen. "Die Türkei wurde noch nie auf der Welt respektiert. Erdoğan allein stellt sich gegen Europa. Nur mit Deutschland hatten wir früher gute Beziehungen, jetzt aber ist es auch feindlich eingestellt", meint der 57-jährige Fatih gegenüber Telepolis, Angestellter in einem der vielen Cafés im Istanbuler Zentrum. "Ich vertraue nur Erdoğan, weil er unsere Interessen vertritt und die Opposition uns auf den Westen verkaufen will" meint er.
Oppositionsanhänger: Erdoğan "hat unser Land in eine Sackgasse geführt"
Solche positiven Stimmen zum amtierenden Präsidenten beherrschen in Istanbul aber nicht das Stadtbild, obwohl er wirkungsvoll versucht, sich als neoosmanischer Sultan in Szene zu setzen. Die türkische Wirtschaft hat in den vergangenen Jahren stark unter seinen Experimenten gelitten.
Während sonst die Zinsen bei einer wie in der Türkei hohen Inflation angehoben werden, fordert Erdoğan ihre Senkung und beruft sich dabei auf den Islam. Diese Strategie brachte jedoch keine nennenswerten Fortschritte, im Gegenteil verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage zuletzt rapide. Ende 2022 überstieg die Inflationsrate 85 Prozent, der höchste Wert seit 25 Jahren.
So ist der 49-jährige Murat, Besitzer eines kleinen Restaurants im Zentrum von Istanbul, überhaupt nicht angetan von seinem Präsidenten. "Er hat unser Land in eine Sackgasse geführt, aus der es keinen Ausweg gibt", erklärt der Gastronom. "Er hat zu Beginn seiner Herrschaft versprochen, dass die Türkei Teil der EU wird und sich jetzt nur mit allen zerstritten. Ich denke, die Opposition wird unser Verhältnis zu Europa verbessern und die Wirtschaftskrise damit überwinden", so seine Hoffnung.
Murat ist wütend auf die aktuelle Regierung. "Heute liegt das durchschnittliche Gehalt bei etwa 9.000 Lira. Die Miete einer kleinen Wohnung in Istanbul kostet aber 10.000 Lira. So kann man nicht leben! Die Situation ist eine Katastrophe!"
Sein 23-jähriger Sohn Osman ist derselben Meinung. "Obwohl ich eine Hochschulausbildung habe, kann ich keinen normalen Job finden. Ich überlege, das Land zu verlassen, um Arbeit zu finden. Aber auch dafür benötige ich Geld. Wenn die Führung wechselt, wird sich vieles ändern und ich vielleicht in der Türkei einen Job finden können", meint der junge Mann. Tatsächlich befindet sich die türkische Arbeitslosenquote momentan bei 8,9 Prozent für Männer und 13,4 Prozent für Frauen.
Nach dem aktuellen Stand der Auszählung liegen Erdoğan und Kılıçdaroğlu aktuell dicht beieinander. Erdoğan könnte im Wissen um die Spaltung der Gesellschaft eine Neuauszählung oder sogar Neuwahlen fordern. Eine Mobilisierung seiner Anhänger auf der Straße ist ebenfalls möglich, womit die ruhige Phase der Wahl vorbei wäre. Dann ist eine härtere Konfrontation unvermeidlich.
Aus Istanbul für Telepolis: Ruslan Suleymanov; Ruslan Suleymanov war bis 2022 leitender Nahostkorrespondent der russischen Nachrichtenagentur TASS; als Protest gegen den russischen Angriff auf die Ukraine beendete er seine Arbeit dort und arbeitet heute als freier TV- Moderator und Journalist in der Türkei und Aserbaidschan.
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