Gesundheitspolitik im Wandel: Harmonisierung oder Kontrollverlust?

Ursula von der Leyen und Bill Gates (UN-Klimakonferenz, COP26, in Glasgow). Foto: European Union, 2024, CC BY 4.0

WHO-Reformen stellen Fragen zu Wirtschaftsinteressen. Pharmastrategie nach EU-Vorbild soll Standort retten. Eine kritische Analyse.

Der Begriff "Harmonisierung" ist vielleicht nicht der erste, den Sie mit dem Thema Gesundheitspolitik in Verbindung bringen. Vielleicht sollten Sie das aber.

Telepolis hat erst vor kurzem eine solche Harmonisierung der globalen Gesundheitspolitik in Bezug auf die geplanten Reformen der Weltgesundheitsorganisation kritisch beleuchtet. Die Überzeugungen prominenter Befürworter des sogenannten WHO-Pandemievertrags zielen darauf ab, nationalstaatliche Alleingänge zu verhindern und nicht-staatliche Akteure stärker einzubeziehen.

Zugleich konnte man anhand der aufgeführten Quellen die Erkenntnis gewinnen, dass sich jene Überzeugungen nicht nur auf "die nächste Pandemie" richten, sondern einem Konzern-getriebenen Multilateralismus das Wort reden, der sich unter dem Vorwand der Gemeinnützigkeit die eigenen Präzedenzfälle zu seiner Ausweitung schafft.

Die Lektüre lohnt auch vor dem Hintergrund des kürzlich veröffentlichten Entwurfs des Medizinforschungsgesetzes, mit dem das Bundesgesundheitsministerium seine Pharma-Strategie umsetzen will. Warum, soll in diesem Text deutlich werden.

Doch zuvor noch eine kurze und vielleicht vielsagende Anekdote.

Studie zur weltweiten Lebenserwartung unter der Lupe

Die Deutsche Presseagentur (dpa) hat am 3. April in einer Meldung von einer Studie zur weltweiten Lebenserwartung berichtet. In deren Zentrum steht die Corona-Krise. "Aufgrund von Todesfällen durch Covid sank die weltweite Lebenserwartung zwischen 2019 und 2021 den Angaben nach um 1,6 Jahre", heißt es darin.

Laut dpa-Meldung basiert die Studie auf Schätzungen der Sterblichkeit für 288 Todesursachen in mehr als 200 Ländern, wobei mehr als 56.000 Datenquellen herangezogen wurden.

Wie bei Meldungen der Nachrichtenagentur üblich, wurde sie von mehreren öffentlichen und privaten Medien distanzlos multipliziert, darunter etwa die Tagesschau, Die Welt und der Sender ntv. Einer Kerninformation haben die Nachrichtenmedien aber keine große Beachtung geschenkt. Nach Meinung des Autors wären Sie das ihren Empfängern aber schuldig gewesen.

Denn die Studie stammt vom Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME) der University of Washington. Schon eine kursorische Recherche auf Wikipedia zeigt, dass das Institut von einer finanzstarken privaten Stiftung gegründet wurde, die weithin als einflussreichster Player im globalen Gesundheitswesen bekannt ist: der Bill & Melinda Gates Stiftung.

Sogar in der Studie selbst findet sich unter dem Punkt "funding" der ausdrückliche Hinweis auf die Stiftung. Das zu unterschlagen, ist nach Meinung des Autors keine Lappalie.

Denn man muss nicht mit kritischen Artikeln der Öffentlich-Rechtlichen oder der großen Recherche von Welt am Sonntag und Politico vertraut sein, um über den Einfluss der Stiftung ins Grübeln zu kommen.

Freilich sagt das aber zunächst einmal nichts über die Qualität der Studie aus. Selbst, wenn die Berechnungsgrundlagen rund um das Thema Sterblichkeit grundsätzlich umstritten sindzumal für den Indikator "Lebenserwartung", dessen Ergebnisse im Kontrast zu denen anderer Analysen steht, welche teilweise sogar von einer Untersterblichkeit in der Corona-Krise ausgehen.

Harmonisierung oder Konzern-getriebener Multilateralismus?

Hinzu kommt aber, dass sich die sogenannten Global Burden of Disease-Studien um IMHE-Direktor Christopher Murray mit Fehlprognosen und schwachen Datengrundlagen schon einen Namen gemacht haben – ebenso wie mit ihrer Überschätzung der Wirksamkeit der berüchtigten non-pharmazeutischen Interventionen (NPIs), sprich: Lockdowns und Social Distancing. Entsprechend drastisch wirkten auch ihre impliziten Empfehlungen, an denen sich politische Entscheidungsträger auf der ganzen Welt orientierten.

So hieß es vom IMHE bereits im Oktober 2020, dass Staaten bei acht Todesfällen auf eine Million Einwohner pro Tag bereits "shutdowns" vollziehen könnten, die Tausenden Menschen das Leben retten würden. Nicht nur die offensichtlich unsaubere Arbeit des Instituts sät im Nachhinein Zweifel an dieser Einschätzung, sondern auch der verhältnismäßig frühe Veröffentlichungszeitpunkt.

Wie Telepolis berichtete, kürte auch die Gates-Stiftung selbst in einem auffällig frühen Stadium der Krise, im Mai 2020, die deutsche Pandemie-Politik zum Vorbild ("best practice") für andere Länder. Das geht aus den freigeklagten RKI-Protokollen hervor.

Das Problem, auf das diese einleitende Anekdote aufmerksam machen soll: Schon die massenhafte Verbreitung der Studie eines einzelnen Instituts verleiht ihr einen Anschein von wissenschaftlichem Konsens und Unabhängigkeit, die bei genauerer Betrachtung zumindest nicht zwingend gegeben ist.

Eine solche "Harmonisierung" ist der Gemeinnützigkeit nicht förderlich, sondern einzig den Interessen der staatlichen und nicht-staatliche Akteure, die künftig mehr an den Entscheidungen der deutschen Gesundheitspolitik mitwirken wollen und sollen.

Und damit sind wir wieder zurück beim Thema: Denn vieles deutet darauf hin, dass es um die Harmonisierung im Medizinforschungsgesetz des Bundes (MFG) nicht grundlegend anders bestellt ist.

Zur Erinnerung: Eine der wichtigsten Lehren, die der erklärte Philanthrop und Microsoft-Milliardär Bill Gates, Autor von Büchern sowohl über "das Klima-Disaster" wie auch "die nächste Pandemie", aus der Corona-Krise gezogen hat, war: Dass die Welt beim nächsten Mal schneller sein muss. Besonders im Hinblick auf die Zulassung von Impfstoffen.

Seine als "100 days mission" bekannte Strategie wurde 2021 auch auf dem G7-Gipfel in Cornwall diskutiert und zuletzt noch einmal von der Europäischen Union beim Aufbau der neuen Behörde für die Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen (HERA) aufgegriffen.

Und ein solcher Plan zur Beschleunigung findet sich auch im neuen Gesetzentwurf der Bundesregierung – speziell für "neuartige" beziehungsweise "innovative" Produkte im Bereich der Zell- und Gentherapien sowie "individualisierte Arzneimittel".

Die Rolle der Pharmaindustrie

Die Kernpunkte des am 25. März veröffentlichten MFG-Entwurfs sind bekannt.

Bereits im Dezember 2023 hat das BMG in der sogenannten Pharma-Strategie die Ziele der weitreichenden Reformen festgelegt, die Deutschland einen "gewaltigen volkswirtschaftlichen Schub" und "Milliardeneinnahmen" einbringen sollten, wie seinerzeit im Handelsblatt zu lesen war.

Schon in den einleitenden Worten nahm man Bezug auf die Corona-Krise:

Die Covid-19-Pandemie hat verdeutlicht, welche Stärken die pharmazeutische Industrie in der Umsetzung von Forschung und Entwicklung hin zu lebensrettenden Produkten besitzt und welche erhebliche Wertschöpfung sich daraus für den Wirtschaftsstandort Deutschland ergeben kann.

Bundesregierung: Verbesserung der Rahmenbedingungen für den Pharmabereich in Deutschland

Die folgenden Abschnitte geben die Kernpunkte der Strategie wieder.

1. "Strategische Autonomie"

Speziell im Bereich der antibiotischen Generika, also Medikamenten mit verwirktem Patentschutz, zielt das BMG darauf ab, seine "strategische Abhängigkeit" von Ländern wie China und Indien abzubauen, die in Deutschland derzeit den Löwenanteil der Versorgung übernehmen.

Zu diesem Zweck sollen auch "Produktionsstätten" in Deutschland gefördert werden. Getroffen wurden diese Entscheidungen vor dem Hintergrund einer (drohenden) Abwanderung der Pharmaindustrie ins Ausland sowie der zunehmenden Abkehr vom US-Systemrivalen China, dem vormals größten Handelspartner Deutschlands.

2. Beschleunigte Zulassung für neuartige Therapeutika

Laut dem MFG beabsichtigt das Gesundheitsministerium ferner, die Prüfprozesse für Herstellungserlaubnisse zu beschleunigen, um das "hohe Innovations- und Entwicklungspotential (…) für neuartige Therapien (wie) Gen- und Zelltherapeutika (…) und patientenindividuelle Arzneimittel" auszuschöpfen.

Diesen Aussagen kann man – aus ökonomischer Sicht – gar nicht genug Bedeutung beimessen. Statistiken zufolge belief sich das Marktvolumen personalisierter Medizin im Jahr 2022 auf beträchtliche 5,39 Billionen US-Dollar. Prognosen zufolge wird sich der weltweite Umsatz bis zum Jahr 2030 auf rund 9,23 Billionen US-Dollar erhöhen. Eine medizinische Goldgrube.

Der "erhebliche Harmonisierungsbedarf", den die Bundesregierung alsdann vermerkt, ergibt sich aus der Anpassung an die gleichlautenden Reformen des EU-Arzneimittelrechts.

Neben der "Förderung von Innovationen" hat dieses sich auch die Bekämpfung antimikrobieller Resistenzen (AMR) als Schwerpunkt gesetzt. Letzteres im Zusammenhang mit dem auch von der WHO verfolgten, kontroversen Konzept der "One Health", auf das Telepolis an anderer Stelle ausführlicher eingegangen ist.

3. Der "Gesundheitsdatenraum"

"(Bio-)technologische Neuentwicklungen und die Anwendung neuer Therapien funktionieren nicht ohne Gesundheitsdaten", heißt es in der Pharma-Strategie der Bundesregierung weiter. Diese unmissverständliche Formulierung ruft die Bemerkungen der Ethikrats-Präsidentin Alena Buyx in Erinnerung, wonach "weniger Datenschutz Leben retten könnte" (Telepolis berichtete).

Mit Inkrafttreten des Gesundheitsdatennutzungsgesetzes (GDG) sollen deshalb "bestehende Hürden bei der Nutzung von Gesundheitsdaten weiter abgebaut werden", heißt es.

Darin inbegriffen ist eine weitere "Harmonisierung" – sprich: Zentralisierung – im Hinblick auf die datenschutzrechtliche Aufsicht. Dazu heißt es:

Sofern bei länderübergreifenden Forschungsvorhaben von nicht öffentlichen Partnern (Unternehmen) eine gemeinsame datenschutzrechtliche Verantwortlichkeit vorliegt, können sich die beteiligten Partner dafür entscheiden, dass eine einzige Datenschutzaufsicht allein zuständig wird.

Bundesregierung: Verbesserung der Rahmenbedingungen für den Pharmabereich in Deutschland

Die gesammelten Daten von Patienten und potenziellen Studienteilnehmern sollen der medizinischen Forschung als Grundlage bereitgestellt werden. Darauf zielt letztlich auch das im Ampel-Koalitionsvertrag angestrebte Forschungsdatengesetz (FDG) ab. Die Daten, um die es sich dabei handelt, sind die individuellsten, die man von Menschen wohl sammeln kann, nämlich genetische:

Über das Modellvorhaben Genomsequenzierung (§ 64e SGB V) werden genomische und klinische Daten im Bereich seltener und onkologischer Erkrankungen (…) erhoben und für die Versorgung und Forschung zugänglich gemacht, denn das innovative Potential genomischer Daten ist immens.

Es kann sich aber nur im Zusammenspiel zwischen Versorgung und Forschung entfalten. Die Nutzung der Daten aus dem Modellvorhaben wird für die private Forschung und damit auch für die pharmazeutische Industrie ermöglicht.

Darüber hinaus wird eine europäische Anbindung über die europäische Genomdateninfrastruktur (GDI, im Aufbau) und über den europäischen Gesundheitsdatenraum vorbereitet.

Bundesregierung: Verbesserung der Rahmenbedingungen für den Pharmabereich in Deutschland