WHO-Pandemievertrag: Ein Angriff auf die staatliche Souveränität?
Fürsprecher zeigen Vorbehalte gegen unabhängige Entscheidungen. Aussagen zur globalen öffentlich-privaten Partnerschaft sprechen Bände, meint unser Autor. (Teil 1)
Während Teile der deutschen Öffentlichkeit noch darüber diskutieren, inwieweit das Pandemie-Management in der Corona-Krise unabhängig von politischen Weisungen erfolgt ist und plötzlich eine seit Jahren überfällige Diskussion über die Aufarbeitung der Krise geführt wird, richtet sich der Blick der Weltöffentlichkeit zunehmend nach Genf.
Weltgemeinschaft vs. Souveränität: Was tun im Pandemiefall?
Dort tagt vom 27. Mai bis zum 1. Juni die 77. Weltgesundheitsversammlung (WHA), um über die Reform der Internationalen Gesundheitsrichtlinien (IHR) und den sogenannten Pandemievertrag der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu diskutieren.
Mit der zunehmenden Aufmerksamkeit häufen sich auch die Faktenchecks der öffentlich-rechtlichen und privaten Medien (etwa bei Correctiv oder dem Bayrischen Rundfunk). In deren Mittelpunkt steht meist die Beteuerung, dass der geplante Pandemievertrag nicht in die nationalstaatliche Souveränität eingreifen werde.
Was dabei aber so gut wie nie zur Sprache kommt, ist der weltanschauliche Hintergrund der größten Befürworter des "WHO-Übereinkommens, Abkommens oder anderweitig internationalen Instruments zur Pandemieprävention, -vorsorge und -bekämpfung". Und dieser begreift den Nationalstaat durchaus als – wohl das schwerste – Hindernis für die Durchsetzung einer internationalen Gemeinschaftsstruktur.
RKI unter Druck: War das unabhängige Pandemiebekämpfung?
Wie bereits berichtet, bestreitet das Robert Koch-Institut (RKI) eine Einflussnahme politischer Akteure auf seine Risikoeinschätzung zu Covid-19. Demnach habe die Institutsleitung die Gefährdungsbeurteilung von "mäßig" auf "hoch" eigenständig aufgrund der steigenden Fallzahlen beschlossen. Auch die Rechtmäßigkeit dieser Beurteilung wird in Zweifel gezogen.
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Jene Zweifel betreffen die damalige Ausweitung der Massentestungen im Zusammenhang mit der laut "RKI-Files" mutmaßlich hohen Rate falsch-positiver Ergebnisse aufgrund des Phänomens der Vortestwahrscheinlichkeit im Anfangsstadium der ausgerufenen Pandemie.
RKI-Files und Lehren aus dem Corona-Krisenstab
Weitere Dokumente des Covid-19-Krisenstabs legen außerdem nahe, dass das Institut seine Entscheidungen sehr wohl in Abhängigkeit vom politischen Umfeld getroffen hat. Eines solchen Beweises hätte es vielleicht gar nicht bedurft, ruft man sich den Umgang des amtierenden Gesundheitsministers Karl Lauterbach (SPD) mit dem Genesenen-Status ins Gedächtnis.
Wie problematisch es ist, ein einzelnes Gremium über die Rechtmäßigkeit von Notstandsmaßnahmen entscheiden zu lassen, machte bereits Andrej Hunko (BSW) im Gespräch mit Telepolis deutlich. Besonders am Beispiel von Schweden, dessen nationale Strategie deutlich von den globalen Empfehlungen der WHO abwich (keine Lockdowns, keine Schulschließungen, keine Maskenpflicht) – und damit auch Faktenchecks zufolge erfolgreicher war.
Global gegen Pandemien: Konsens oder Kontroverse?
Dennoch sprechen sich zahlreiche Stimmen von internationalem Gewicht entschieden für den Pandemievertrag aus oder warnen sogar vor dem Scheitern der Verhandlungen.
So etwa zuletzt in zwei Beiträgen der öffentlich-privat finanzierten NGO "Project Syndicate". Einer davon stammt von Wirtschaftsminister Robert Habecks (Grüne) "Lieblingsökonomin" Mariana Mazzucato und trägt den Titel "Wie man den Pandemievertrag rettet".
Der zweite Beitrag versammelt eine auffallend große Gruppe von (ehemaligen) internationalen Entscheidungs- und Leistungsträgern, darunter Staatsoberhäupter, Premierminister von Asien über Afrika bis Europa und Amerika, akademisches Fachpersonal sowie Vertreter der UN inklusive ihres ehemaligen Generalsekretärs Ban Ki-moon.
Der Titel dieses ursprünglich vom ehemaligen britischen Premier Gordon Brown verfassten Beitrags lautet: "Das Pandemie-Abkommen, das die Welt braucht (liefern)". (Deutsche Version hier.)
Das Pandemieabkommen: Rettung oder Risiko?
Gleich zu Beginn zielt der Beitrag darauf ab, die "misinformation" richtigzustellen, der WHO-Vertrag würde nationales Recht überstimmen oder der WHO erlauben, per Dekret Maßnahmen wie digitale Impf-Ausweise zu erlassen. Stattdessen bewerten die Autoren die Ziele des Vertrags als ausschließlich gemeinnützig:
Ein Pandemieabkommen würde enorme und Vorteile zum Nutzen der Allgemeinheit mit sich bringen, u. a. eine größere Kapazität zur Erkennung neuer und gefährlicher Krankheitserreger, Zugang zu Informationen über andernorts auf der Welt entdeckte Krankheitserreger sowie die rechtzeitige und gerechte Bereitstellung von Tests, Behandlungen, Impfstoffen und anderen lebensrettenden Mitteln.
Das Pandemie-Abkommen, das die Welt braucht
Doch wie der Beitrag der Ökonomin Mazzucato, der kapitalistische Monopolstrukturen kritisiert und sich vor allem um die Aufhebung des Patentschutzes im Falle einer Notfallversorgung mit Impfstoffen dreht, enthält auch der Beitrag Browns eine bekannte Warnung: "Es gilt, keine Zeit zu verlieren". Denn der Vertrag, so Brown, stelle eine historische Chance dar, die die Menschheit nicht verpassen dürfe.
Es sei "unerlässlich, einen wirksamen, sektorübergreifenden und multilateralen Ansatz zur Pandemieprävention, -vorsorge und -bekämpfung zu entwickeln", heißt es darin.
Verheißung: globale Lösungen für globale Probleme
Die rechtzeitige Verabschiedung eines globalen Pandemieabkommens wäre ein starkes Signal: Selbst in unserer zersplitterten und fragmentierten Welt kann die internationale Zusammenarbeit noch globale Lösungen für globale Probleme liefern.
Das Pandemie-Abkommen, das die Welt braucht
Kooperation zwischen öffentlichem und privatem Sektor
Abgerundet wird diese Forderung nach globalen Lösungen von einem Statement, dass im hier noch einen langen Nachklang finden wird:
Wie die Covid-19-Pandemie gezeigt hat, ist die Zusammenarbeit zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor, die sich auf die Förderung des Gemeinwohls konzentriert, ebenfalls unerlässlich.
Das Pandemie-Abkommen, das die Welt braucht
Vermeintlicher Konsens: Politische Ökonomie der Gesundheitspolitik
Bei seinem 9. Treffen am 18. März präsentierte das von der WHO einberufene internationale Verhandlungsgremium zur Ausarbeitung des Pandemievertrags (INB) den "revised draft" des Vertrags, welcher fünf Tage zuvor beschlossen wurde. Gleichlautend mit den Darstellungen zahlreicher Faktenchecks wird in der Präambel der "Grundsatz der Souveränität der Staaten bei der Behandlung von Fragen der öffentlichen Gesundheit" bekräftigt.
Zum Anlass des überarbeiteten Vertragsentwurfs ("zero draft") hielt der WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus eine Rede, in der er die Bedeutung des anvisierten Vertragsabschlusses bekräftigte. Trotz der noch nicht ausgearbeiteten Einzelheiten des Vertragswerks stützen sich laut Tedros alle beteiligten Mitgliedsstaaten auf drei Grundpfeiler:
Sie sind sich einig, dass eine vorhersehbare und nachhaltige Finanzierung für die Bereitschaft und Reaktion auf eine Pandemie erforderlich ist; Sie sind sich einig, dass ein gerechtes System für den Zugang und die Leistungen erforderlich ist; Sie sind sich einig, dass der Privatsektor einbezogen werden muss. Wir hätten ein viel größeres Problem, wenn Sie sich nicht auf die grundlegenden Ziele des Abkommens einigen würden. Aber das tun Sie.
WHO-Generaldirektor Tedros Adhanaom Ghebreyesus
Den Konsens, den der Generaldirektor hier voraussetzt, ist tatsächlich aber einer der zentralen Kritikpunkte am WHO-Pandemievertrag. Denn er beschreibt den grundsätzlichen Widerspruch zwischen kapitalistischem Profitinteresse und sozialdemokratischen – um nicht zu sagen: sozialistischen – Idealen.
Ob sich dieser Widerspruch auflösen lässt und somit eine "Revolution von oben" möglich ist, ist eine der großen Streitfragen unserer Zeit.