Corona-Krise als Booster für Depressionen: Die privatisierte Aufarbeitung
Diagnostizierte Depressionen erreichten 2022 ein Rekord-Hoch. Zugleich wurde über zerbrochene Freundschaften berichtet. Wann lohnt sich das Verzeihen? Ein Kommentar.
Dass die Corona-Krise schwere psychosoziale Folgen hatte, bestreiten heute weder das "Team Vorsicht" noch die teils radikalen Gegner der Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionswellen. So wurde in dieser Woche auch die Meldung, dass im Jahr 2022 rund 9,5 Millionen Menschen in Deutschland – also gut 12,5 Prozent der Bevölkerung – an Depressionen erkrankt sind, sofort mit dem Stichwort "Corona-Pandemie" in Verbindung gebracht.
Die Zahlen stammen aus dem von der Krankenkasse AOK erstellten Gesundheitsatlas Deutschland, der wegen zeitversetzter Datenlieferungen der regionalen Kassen nur das Jahr 2022 komplett abbilden kann.
20 Prozent der Menschen verloren Freunde im Streit über Corona
Bereits im Sommer 2022 hatte eine Studie zum "Internationalen Tag der Freundschaft" ergeben, dass rund 20 Prozent der Menschen in Deutschland von zerbrochenen Freundschaften durch Meinungsverschiedenheiten zur Corona-Politik berichtet hatten.
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38 Prozent gaben in der Studie des Sinus-Instituts für Markt- und Sozialforschung an, dass manche Freundschaften die Corona-Zeit nur überstanden hätten, weil sie online Kontakt halten konnten. 62 Prozent hatten demnach ihre Freunde sehr vermisst; 27 Prozent sogar so sehr, dass sie sich über Kontaktbeschränkungen hinweggesetzt hatten.
Zwar waren die striktesten Corona-Maßnahmen inklusive Kontaktbeschränkungen in die Vorjahre 2020 und 2021 gefallen – die Debatte um eine allgemeine Impfpflicht wurde aber Ende 2021 und Anfang 2022 besonders erbittert geführt, was sich auch auf private Online-Diskussionen auswirkte.
Bittere Schuldzuweisungen an Ungeimpfte
"Wir erleben zurzeit eine Tyrannei der Ungeimpften", hatte der Ratsvorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, im November 2021 in der Talkshow von Anne Will gesagt. Politiker von den Unionsparteien, darunter Ex-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bis zur Linken hatten von einer "Pandemie der Ungeimpften" gesprochen.
Anfang Dezember 2021 einigten sich Bund und Länder auf "2G-Regeln" in weiten Teilen des öffentlichen Lebens und beschränkten damit den Zugang zu Gastronomie und Kultureinrichtungen sowie Teilen des Einzelhandels auf Geimpfte und Genesene.
Die Regelung galt auch für den Karneval 2022 in Köln – in Innenräumen wurde hier zusätzlich ein aktueller negativer Corona-Test verlangt. In Folge der Feierlichkeiten kam es in Köln dennoch zu besonders zahlreichen Neuinfektionen. Mehr und mehr sprach sich herum, dass Impfungen zwar in vielen Fällen vor einem schweren Verlauf schützten, aber nicht zuverlässig vor der Infektion und der Weitergabe des Virus.
Private Diskussionen zwischen Impfpflicht-Befürwortern und Ungeimpften, die sich längst nicht alle aktiv an Demonstrationen gegen Impfpflicht und Corona-Maßnahmen beteiligt hatten, wurden daraufhin nicht zwangsläufig versöhnlicher. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) warf auch nach der 2G-Karnevals-Erfahrung Ungeimpften vor "das ganze Land in Geiselhaft" zu nehmen.
Eine politische Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen und des von Regierungsmitgliedern befeuerten Debattenklimas wurde allerdings in dieser Woche abgesagt. Es werde im Bundestag kein entsprechendes Gremium geben, sagte Katja Mast, Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion, am Mittwoch in Berlin.
Corona-Aufarbeitung: Wann lohnt sich das Verzeihen?
Die Corona-Aufarbeitung ist damit einerseits privatisiert – ob Freundschaften zerbrochen bleiben, hängt von den Beteiligten selbst ab – und andererseits zum Wahlkampfthema von AfD und BSW geworden.
Wie viele Depressionen durch Corona-Todesfälle oder die Angst vor dem Virus selbst verursacht wurden – und wie viele durch Vereinsamung, zerbrochene Freundschaften oder die Unmöglichkeit, sich von Menschen zu verabschieden, die aus anderen Gründen im Sterben lagen – wäre noch genauer zu erforschen.
"Wir werden einander viel verzeihen müssen", heißt ausgerechnet ein Buch von Ex-Gesundheitsminister Spahn zu dieser Thematik. Aber wer durch Meinungsverschiedenheiten in Sachen Corona Freunde verloren hat, muss nicht Spahn verzeihen, sondern entscheiden, was ihm oder ihr die zerbrochene Freundschaft wert war – und welches Motiv hinter der anderen Meinung steckte.
Allzu schnell wurden hier charakterliche Defizite und menschliche Abgründe unterstellt. Irren ohne niedrige Beweggründe schien unmöglich; und eigene Irrtümer sowieso.
Aber wollte die ungeimpfte Freundin wirklich ältere Menschen dem Virus opfern, oder traute sie einfach nicht den Verlautbarungen der Regierung und hielt – aus welchem Grund auch immer – die Impfung nicht nur für begrenzt wirksam, sondern für gefährlicher als das Virus?
War der Impfpflicht-Befürworter aus dem alten Freundeskreis wirklich ein autoritärer Kontrollfreak – oder hatte er einfach Angst vor dem Virus und das Leben von Angehörigen und begriff nicht, wie sich manche Leute so erbittert gegen einen "Pieks" wehren konnten?
Und vor allem: Haben wir selbst seither alle neuen Erkenntnisse berücksichtigt oder es uns in einer rechthaberischen "Bubble" bequem gemacht?
Wer warum in diesem Fall an die (Rest-)Vernunft der Regierung glaubte und wer nicht, war jedenfalls individuell und nicht an der politischen Selbstverortung links oder rechts festzumachen.
Dass in sehr unterschiedlichen, teils verfeindeten Staaten strenge Eindämmungsmaßnahmen wurden, in China sehr viel strengere als in Deutschland, half in manchen Milieus nicht gegen den Glauben an eine große Verschwörung. Zu viele fühlten sich verunsichert und ausgeliefert; vielleicht nicht zuletzt durch die Doppelmoral der Corona-Maßnahmen in Arbeitswelt und Freizeit.
Wie Corona-Krisenprofiteure ihre Meinung änderten
Manche "Bewegungsunternehmer" machten daraus ein Geschäftsmodell; radikale Impfgegner bezeichneten Geimpfte als "genmanipuliert" oder behaupteten gar, dass diese innerhalb von drei Jahren sterben würden.
Allerdings vertraten nicht alle Ungeimpften derart steile Thesen; nicht alle Geimpften waren auch für eine Impfpflicht; und es gab auch im "Team Vorsicht" Extrempositionen, die spätestens nach der 2G-Karnevals-Erfahrung nicht mehr streng wissenschaftlich zu begründen waren.
Die AfD jedenfalls hatte frühzeitig eine 180-Grad-Wendung hingelegt: Am 12. März 2020 hatte sich die heutige AfD-Kanzlerkandidatin noch rigorose Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus gewünscht und erklärt, das "Nichtstun der Bundesregierung" gefährde Leib und Leben der Menschen. Wenig später hatte sich die AfD aber als Protestpartei gegen die dann doch verhängten Corona-Maßnahmen inszeniert und Kontakte zur "Querdenker"-Bewegung aufgebaut.
Dass Demagogen und Krisenprofiteure so spielend ihre Meinung ändern können, sollte zerbrochenen Freundeskreisen, die in keiner Weise von der Corona-Krise profitiert haben, zu denken geben. Und eines ist sicher: Resilienter werden wir in Zeiten der multiplen Krise nicht, indem wir Freundschaften leichtfertig aufgeben.