Scheu vor Konfrontation? Regierung lehnt Corona-Aufarbeitung vorerst ab

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SPD teilt mit, dass es im Bundestag vorläufig keine Aufarbeitung geben wird – eine politisch riskante, falsche Entscheidung, wie unser Autor meint. Analyse und Kommentar.

Viele Experten hatten immer wieder eine Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen gefordert, aber nun steht die Entscheidung der SPD fest.

Katja Mast, die Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion, teilte mit: "Es wird keine zusätzliche Aufarbeitung der Corona-Pandemie in dieser Legislaturperiode geben."

Man fragt sich erstaunt: Gab es denn bereits eine umfassende Aufarbeitung?

Viele offene Fragen

Eine Aufarbeitung soll frühestens erst im Jahr 2026 stattfinden, obwohl die Argumente, die für eine Aufarbeitung sprechen, so zahlreich sind, dass der Artikel schon an dieser Stelle den Hinweis einfließen lassen muss, die folgende Liste erhebe nicht ansatzweise den Anspruch auf Vollständigkeit.

Zahlreiche Experten haben sich wiederholt für eine Aufarbeitung ausgesprochen. Beispielsweise fordern Klaus Stöhr, ehemaliger Pandemiebeauftragter der WHO, und Detlev Krüger, ehemaliger Direktor des Instituts für Virologie der Charité Berlin, eine Aufarbeitung, denn aus ihrer Einschätzung heraus waren "etliche Corona-Maßnahmen unnötig oder schädlich".

Der Virologe Hendrik Streeck betont:

Dass eine gründliche Aufarbeitung der größten Krise der Nachkriegszeit nicht nur notwendig, sondern unverzichtbar ist, sehen wir schon heute. Denn bisherige wissenschaftliche Erkenntnisse und Empfehlungen zur Vorbereitung auf zukünftige Krisen sind weitgehend ignoriert worden.

Weder wurde Prävention in Schulen betrieben noch in kritische Infrastruktur investiert; es wurden keine Daten gesammelt und keine veränderte Kommunikationskultur aufgebaut.

Hendrik Streeck

Einschränkung der Grundrechte

Corona-Maßnahmen haben Grundrechte eingeschränkt wie nie zuvor in der Nachkriegsgeschichte. Es sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, dass nach Ende der Krise untersucht wird, inwiefern die getroffenen Einschränkungen notwendig, verhältnismäßig und angemessen waren.

Beim Thema Schulschließungen gibt es kaum mehr Diskussionen mit divergierenden Ansichten. Auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach gibt zu, dass das Ausmaß der Schulschließungen ein Fehler war.

Europaweit zeigte sich Deutschland als besonderer Fall. Nur Polen schloss die Schule länger. Kinder und Jugendliche zeigten in der Folge hierzulande 75 Prozent mehr Depressionssymptome.

Ausgrenzung

Gravierend war auch das Ausmaß der 2G-Regelung, die faktisch zur Ausgrenzung und Ausschluss eines Teils der Gesellschaft geführt hat. Gemäß der freigeklagten RKI-Files gibt es jedoch starke Gründe, an der Rechtmäßigkeit dieser Maßnahmen zu zweifeln.

Frauke Rostalski kommentiert hierzu in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:

Eine "Pandemie der Ungeimpften" hat es nicht gegeben. Aus den Sitzungsprotokollen des RKI-Krisenstabs vom 5. November 2021 geht hervor, dass die Wissenschaftler die Aussage selbst "aus fachlicher Sicht [für] nicht korrekt" hielten.

Für die juristische Bewertung von Maßnahmen gegenüber Ungeimpften ist dies folgenreich. Grund dafür ist, dass die Rede von der "Pandemie der Ungeimpften" für die politischen Entscheidungsträger als Rechtfertigung für eine Ungleichbehandlung geimpfter und ungeimpfter Bürger diente.

Einrichtungsbezogene Impfpflicht

Während die 2G-Regelung nur gewissermaßen als indirekte Impfpflicht verstanden werden kann, gab es im Pflege- und Gesundheitsbereich sowie bei der Bundeswehr eine einrichtungsbezogene Impfpflicht.

Das Verwaltungsgericht Osnabrück entschied vor wenigen Wochen – explizit aufgrund der RKI-Files – , dass die Impfpflicht für das Pflege- und Gesundheitspersonal in der Corona-Pandemie nicht verfassungsgemäß sei.

An dieser Stelle sei auch daran erinnert, dass beispielsweise ein Bundeswehrsoldat im April diesen Jahres für die Weigerung sich impfen zu lassen zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, und noch im Juli wurde ein ungeimpfter Soldat zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.

Impfgeschädigte

In diesem Zusammenhang muss selbstverständlich auch gerade auf die schwer Impfgeschädigten hingewiesen werden. Wie an anderer Stelle vom Autor auf Telepolis anhand von 48 schwer impfgeschädigten Menschen dargestellt, müssen Impfgeschädigte so gut wie immer selbst für ihre Behandlung aufkommen, weil ihre Erkrankung bis heute offiziell nicht anerkannt ist.

Wäre das kein Thema für eine Aufarbeitung?

Maskenpflicht

Die Maskenpflicht ist sicherlich in den Auswirkungen kaum mit der 2G-Regel zu vergleichen, dennoch ist sie eine Einschränkung der Freiheit. Zur Erinnerung: Noch im Februar letzten Jahres mussten Zugreisende streng genommen zwischen den einzelnen Schlucken aus dem Trinkbecher die Maske wieder hochziehen, um keine Geldstrafe zu riskieren.

Laut RKI-Files hatte der RKI-Krisenstab aber eine durchaus ambivalente Einschätzung der Maske, die im deutlichen Gegensatz zum kommunizierten eindeutigen Vorteil der Maske steht. Im November 2020 heißt es: "Es ist ungünstig und gefährlich, wenn Masken von Laien benutzt werden". Im Januar 2021: "Aus fachlicher Sicht ist es nicht unproblematisch, generell FFP2-Masken zu empfehlen. Dies kann bei Personen mit Vorerkrankungen zu gesundheitlichen Problemen führen."

Alleine. Sterben. Ohne Abschied.

Die gravierendste Freiheitseinschränkung betraf die Situation sterbender Menschen. Zwei Jahre lang konnten sich Sterbende hierzulande oft nicht von ihren Liebsten verabschieden. Monatelang war in Altenheimen und Kliniken jeder Besuch verboten.

Dabei war spätestens im Herbst 2020 aufgrund von Datenmaterial aus England bekannt, dass die verordnete Isolation die Anzahl von alten Menschen, die an Demenz oder Alzheimer verstarben, explodieren ließ (zu diesem Zeitpunkt waren es bereits 26.000 Menschen). Mit anderen Worten: Diese Maßnahme hatte auch tödliche Nebenwirkungen.

Der BSW-Abgeordnete Andrej Hunko bat vom Gesundheitsministerium um Auskunft über die Anzahl der Menschen, die in Deutschland aufgrund des Besuchsverbots alleine aus dem Leben scheiden mussten. Die knappe Antwort: "Nein, darüber hat die Bundesregierung keine Kenntnis."

Diese Unwissenheit über ein so lebenswichtiges Thema ist erstaunlich. Laut jüngsten Krankenhausdaten des Abrechnungsportals INEK mussten in Deutschland mindestens 312.897 Menschen (traurigerweise auch Kinder) einsam, ohne jeden Beistand und verzweifelt die letzten Tage und Stunden ihres Lebens verbringen.

Diese Zahl sollte man im Kopf behalten, wenn eine Aufarbeitung der Corona-Jahre mindestens bis in das Jahr 2026 verschoben wurde. Mindestens 312.897 Menschen. Die Zahl der Menschen, denen es verboten war, sich von Sterbenden zu verabschieden, dürfte vermutlich über einer Million liegen.

Nicholas Christakis, Arzt und Soziologe, gab eine Erklärung, die nicht nur für die USA zutrifft:

Das einsame Sterben in den Krankenhäusern hätten wir vermeiden können. Es war amoralisch, unethisch und unnötig. Wenn niemand Geliebtes oder Vertrautes da sein konnte, dann habe ich die Hand gehalten. Für mich ist es ein menschlich unverzeihliches Versagen.

Und weil dieses Thema so gravierend ist, sei an dieser Stelle ein zweites Zitat erlaubt. Der Verfassungsrechtler Volker Boehme-Neßler betont:

In der Politik ist es entweder nicht angekommen oder aber es wird ignoriert, wie weitreichend die Maßnahmenpolitik war. Sie war für nicht wenige Bürger tatsächlich traumatisierend. Und zwar, wenn man Schilderungen von Bürgern zu dieser Zeit zuhört, sogar schwer traumatisierend.

Hier gilt es sich vor Augen zu halten: Mitbürger konnten sich nicht von sterbenden Angehörigen verabschieden. Was heißt das, wenn ein Sohn weiß, dass seine Mutter gerade stirbt, er aber nicht in das Krankenhaus gelassen wird?

Was heißt es, wenn ein Sohn stirbt und die Mutter keinen Abschied nehmen darf? Das sind jetzt nur zwei mögliche Kombinationen, es ist "nur" eine konkrete Auswirkung der Maßnahmenpolitik – neben vielen weiteren.Volker Boehme-Neßler

Soll das kein Thema sein? Es ist wichtig, herauszufinden, ob das Besuchsverbot angemessen und verhältnismäßig war.

Übersterblichkeit

Vor einem Jahr war die besondere Übersterblichkeit in den Jahren 2021 und 2022 in Deutschland auf Telepolis ein Thema. Basierend auf den Zahlen des Statistischen Bundesamtes sind 115.000 – 163.000 Menschen mehr als erwartet verstorben.

Eine Untersuchung über die Gründe steht nach Wissen des Autors aber weiterhin aus. Selbstverständlich wäre diese Frage ein substanzieller Bestandteil einer Aufarbeitung der Corona-Jahre, um wissenschaftlich festzustellen, inwiefern und in welchem Ausmaße die Corona-Maßnahmen hierfür verantwortlich sind.

Datenerhebungskatastrophe

Die Datenlage der Bundesregierung ist leider nicht nur im Hinblick auf die Anzahl der Menschen, die alleine sterben mussten, stark verbesserungsfähig. Immer wieder hatten führende Experten auf die unsichere Datenlage in Deutschland aufmerksam gemacht und deutliche Verbesserungen gefordert.

Denn selbstverständlich sind Entscheidungen von der Reichweite massiver Grundrechtseinschränkungen nur dann verantwortungsvoll und abwägend zu treffen, wenn die Datengrundlage solide ist. Der Statistiker Gert Antes hatte dies schon im April 2020 eingefordert: Im Januar 2021 konstatierte er dann, dass "wir immer noch im Blindflug unterwegs sind".

Der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit bezeichnete die Datenerhebung in Deutschland im Dezember 2021 schlicht als "Datenerhebungskatastrophe".

Eine Corona-Aufarbeitung wäre aber nicht zuletzt deswegen zwingend notwendig, um herauszufinden, warum es zu diesem Dauer-Blindflug kam und welche Maßnahmen nun konkret ergriffen worden sind und werden, um für die Zukunft eine solide Datenbasis zu garantieren.

Wie es um die Datenerhebung heute bestellt ist, offenbart ein aktueller Bericht des Paul-Ehrlich-Instituts:

Um die Forschung zur Sicherheit und Wirkungsweise der COVID19-Impfstoffe in Deutschland weiter zu vertiefen, müssen noch einige datentechnische und methodische Hürden überwunden werden.

Im Rahmen einer Machbarkeitsstudie von Uniklinik Köln, Ruhr-Universität Bochum und Paul-Ehrlich-Institut werden die Zusammenführung sowie die prinzipielle Auswertbarkeit der benötigten Gesundheitsdaten getestet.

Knapp drei Jahre nach Zulassung der Impfstoffe mag es dann doch etwas überraschen, dass "die Zusammenführung sowie die prinzipielle Auswertbarkeit der benötigten Gesundheitsdaten" nun getestet wird.

Warum erst jetzt? Nach 192 Millionen verabreichten Impfdosen.

Kommunikation

Im Hinblick auf alle angeführten Aspekte ist auch die Frage nach der Kommunikation der Regierung und des Bundesgesundheitsministeriums zu stellen. Frauke Rostalski gibt in der FAZ zu bedenken:

Problematisch an den RKI-Protokollen ist nämlich, dass wir schon damals anderes hätten wissen können, wenn die betreffenden Wissenschaftler und die Politik die Bürger entsprechend informiert hätten. Dann wären, wie die Beispiele zeigen, möglicherweise andere rechtliche Entscheidungen getroffen, wäre Freiheit anders verteilt worden.

Insbesondere im Hinblick auf den Fremdschutz der Impfung zeigt sich das Problem der Kommunikation. So schreiben Martin Spenger, PublicHealth-Experte der Universität Graz, und der Immunologe Andreas Radbruch, Mitglied der Leopoldina:

Bei den Zulassungsstudien wurde die Reduktion symptomatischer Ansteckungen gemessen, allerdings nicht, ob Geimpfte auch weniger ansteckend sind. Keine Zulassungsbehörde hat irgendeinem Corona-Impfstoff bescheinigt, dass er das Übertragungsrisiko reduziert.

Wie konnte es also dazu kommen, dass bei den Corona-Impfstoffen nicht nur ein fast hundertprozentiger Schutz vor Erkrankung, sondern auch eine effektive Reduktion des Übertragungsrisikos kommuniziert wurde?

Martin Spenger, Andreas Radbruch

Auch das ist eine Frage, die eine Untersuchung verdient.

Verlorenes Vertrauen

Eine Aufarbeitung ist man auch dem Vertrauen der Bevölkerung in Politik und Regierung schuldig, das bei einigen unter die Räder gekommen ist. Frauke Rostalski kommentiert:

Was bei alledem verloren geht, ist Vertrauen. Vertrauen in die Politik, die den Bürger als ihren Souverän zu begreifen und ihn deshalb mit den zutreffenden naturwissenschaftlichen Fakten zu versorgen und ihm Einblick in ihre darauf gestützten Entscheidungen zu geben hat.

Vertrauen in die Wissenschaft als allein an der Wahrheitsfindung orientierte Instanz. Vertrauen in die Medien als Stachel im Fleisch der Regierenden. In einer Demokratie kommt allen drei Institutionen eine erhebliche Bedeutung zu.

Deshalb wiegt es so schwer, wenn Vertrauen in sie verloren geht. Nur wenn die Bürger Politik, Wissenschaft und Medien vertrauen, ist es überhaupt möglich, gemeinsam Entscheidungen zu treffen und sich nicht im breiten Angebot alternativer Wahrheiten zu verlieren.

Frauke Rostalski, FAZ

Auch Andreas Rosenfelder hat große Bedenken über die Konsequenzen einer ausbleibenden Aufarbeitung:

Es wäre eine dringliche Aufgabe der Bundesregierung, den Bürgern das Vertrauen zu vermitteln, dass genau solch eine blinde Wiederholung auf keinen Fall stattfindet. Die Gelegenheit dazu hat sie nun versäumt.

In diesem Zusammenhang ist vor Augen zu halten: Nach den Corona-Jahren hat jeder zweite Deutsche wenig oder geringes Vertrauen in die Demokratie.

Keil in der Gesellschaft

Vertrauen ist aber auch zwischen den Menschen verloren gegangen. Etwas vereinfacht gesagt, standen sich in den Corona-Jahren zwei Lager gegenüber, die das jeweils andere Lager als eine existenzielle Gefahr wahrgenommen haben.

Die eine Gruppe sah in den Kritikern der Maßnahmen eine Gruppe, die offenbar die Gefahren von Covid-19 nicht ernst genug nahmen und so durch ihr unverantwortliches Verhalten alle in Gefahr brachten.

Die Kritiker wiederum sahen in den Maßnahmen-Befürwortern eine existenzielle Gefahr, weil durch deren offenbare Übervorsichtigkeit zu radikale Maßnahmen getroffen wurden, die mehr zerstörten, als sie sicherten.

Es liegt leider in der Natur einer so grundsätzlich existenziellen und emotional aufgeladenen Situation, dass ein Dialog kaum mehr möglich ist. Beide Lager diffamierten sich gegenseitig, so gut wie kein Gespräch und vor allem kein Zuhören war möglich. (Dabei muss man berücksichtigen, dass die Gruppe der Maßnahmen-Befürworter eine deutlich stärkere Position innehatte, weil ihr die Regierung, der Großteil der Politik und Medien angehörte.)

Die Corona-Jahre haben teilweise einen Keil durch die Gesellschaft geschlagen.

Tatsächlich zeigt sich in einer aktuellen Studie, wie sehr Freundschaften und Familienbande in Deutschland gelitten haben. Das Projekt "LoneCovid" des GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften in Mannheim hat untersucht, wie sich soziale Netzwerke in Deutschland während der Corona-Jahre und darüber hinaus entwickelt haben. Die Daten ergeben, dass die Menschen wesentlich mehr wichtige Kontakte verloren, als hinzugewonnen haben.

"Die Personen, die in der Pandemie weggefallen sind, waren wichtiger als die hinzugekommenen", erklärt die Projektleiterin Lydia Repke. Der Grund für den Kontaktverlust zu den nahestehenden Menschen? Nach Tod und Umzug folgen Streitigkeiten als wichtigster Grund. In nicht weniger als der Hälfte der Fälle war es ein Disput über die Corona-Politik.

Auch das Vertrauen der Menschen untereinander hat massiv Schaden erlitten. Céline Lauer kommentiert in der Welt:

Legt man die Daten der Erhebungen von 2017, 2020 und 2022 nebeneinander, sieht man sofort, dass der Zusammenhalt in zwei Jahren Pandemie gelitten hat. So waren zuletzt 28 Prozent der Befragten der Meinung, man könne sich auf niemanden mehr verlassen; doppelt so viele wie vor Corona. Und während im Sommer 2020 nur jeder fünfte Befragte fand, dass sich die Leute nicht umeinander kümmern, war es 2022 mehr als jeder zweite.

Céline Lauer, Welt

Auch die Gesellschaft, jede und jeder, hat eine Aufarbeitung nötig. Ebenso sehr jedoch auch ein Gespräch, ein Zuhören, ohne Vorverurteilung. Eine Regierung, die eine Aufarbeitung auf unbestimmte Zeit aufschiebt und gleichsam zur Tagesordnung zurückkehrt, zeigt hier ein denkbar schlechtes Beispiel. Da helfen auch alle Appelle an Solidarität und Abbau der Spaltung wenig.

Transparenz. Nirgends.

Die Corona-Jahre waren (ohne jegliche Wertung) ein Experiment, denn es gab keine Blaupause für die Entscheidungen und Maßnahmen. Wenn man der Wissenschaft aber folgen will, muss man auch die wissenschaftliche Methode verwenden: nämlich das Experiment anschließend möglichst wissenschaftlich sauber auswerten.

Genau mit diesem Argument hatte der Autor dieser Zeilen im April gefordert: "Die Zeit für eine transparente Untersuchung der Corona-Maßnahmen ist gekommen. Das ist ein wissenschaftlicher und moralischer Imperativ."

Es sollte eigentlich auch nicht einmal Gegenstand irgendeiner Debatte sein, dass es schlicht dem Prinzip Verantwortung folgend ein Imperativ ist, nach den Corona-Jahren möglichst objektiv aufzuarbeiten, was gut funktioniert hat und was nicht. Ist man das nicht allen Menschen, die Opfer gebracht haben, schuldig?

Ist man das nicht zukünftigen Generationen schuldig, die sich vielleicht eines Tages in einer vergleichbaren Situation wiederfinden werden und dann hoffentlich darauf zurückgreifen können, was wir gelernt haben?

Nun wird es also eine Aufarbeitung erst frühestens im Jahr 2026 geben. Oder noch später. Oder gar nicht. Vor nicht einmal einem Monat hatte Karl Lauterbach sich explizit noch für eine Aufarbeitung ausgesprochen:

Wir brauchen diese Aufarbeitung. Ich habe sie ja selbst auch häufiger schon gefordert. Wenn wir es nicht machen, dann entsteht einfach der Eindruck, als wenn wir etwas zu verbergen hätten. Daher ist eine solche Aufarbeitung notwendig und sollte stattfinden.

Dem kann man eigentlich nur zustimmen (und sich wundern, warum Lauterbach sich in seiner Partei nicht durchgesetzt hat).

Und man könnte im Zusammenhang mit der Frage nach der Aufarbeitung an die Variation eines Satzes denken, der immer wieder von Politikern in den letzten Jahren bei der Durchsetzung neuer Überwachungsmaßnahmen zu hören war: Wenn die Politik nichts zu verbergen hat, braucht sie auch keine Angst vor Transparenz haben.