Gewählte ohne Volk: Unsere Demokratie steckt in der Krise

Seite 3: Eine ausgewachsene, aber verschwiegene Krise

In einer Repräsentativen Demokratie die genannten Fakten zu ignorieren oder zu verschweigen, ist mehr als problematisch. Die vor allem taktischen Diskussionen, die jetzt nicht nur in den politischen Büros, sondern in der Öffentlichkeit geführt werden, sind dagegen geradezu absurd.

Und dies ist kein Berliner Spezifikum, auch wenn in der Bundeshauptstadt besonders viele Menschen nicht wahlberechtigt sind. Die Wahlbeteiligung geht bei vielen Wahlen überall in Deutschland mit Ausnahmen generell seit vielen Jahren zurück. Ich habe es auch für andere Wahlen, der Landtagswahlen in NRW und selbst der Bundestagswahl ähnlich feststellen können.

Alles konzentriert sich in unserer Demokratie auf Wahlen und das Ergebnis ist, dass so wenige Menschen der Bevölkerung letztlich repräsentiert werden. Und dann haben wir noch nicht davon gesprochen, dass die Parteien, die zur Wahl stehen, viel versprechen, aber immer weniger Substanz und Personal anzubieten haben.

Alle Parteien zusammengenommen, haben in den letzten 20 bis 25 Jahren die Hälfte ihrer Mitglieder verloren, die Übrigen sind zudem überwiegend nicht mehr aktiv. Nicht nur die Strukturen der Parteien sind überaltert.

Ausnahmen gibt es kaum und neue Parteien haben meist medial, aber auch, weil immer mehr taktisch wählen, ohne viel Geld keine Chance. In der Regierung unterwerfen sich die Gewählten einer Partei, dann dem Fraktionszwang und einem Koalitionsvertrag. Das Resultat: immer weniger Raum für Gestaltungsmöglichkeiten und Interaktion mit der Bevölkerung.

Real regieren dann nur wenige Personen im Spannungsverhältnis zwischen Parteitaktik und Profitlobby. Es eine Art zeitlich begrenzter, bürgerlicher Aristokratie.

Es ist also kein Wunder, dass es eine Repräsentationskrise gibt. Immer mehr Menschen werden sich von Politik und damit auch von der Demokratie an sich ab, die ja von der Beteiligung der Menschen lebt.

Hinzu kommt, dass ohnehin immer weniger Menschen die Zeit und die Nerven haben, sich einzumischen. Wer wenigstens wählen geht, stimmt oft für das kleinere Übel, um ein größeres Übel zu verhindern.

Das konnte man bei der Neuwahl in Berlin gut bei der angeblichen Zustimmung für die CDU erkennen. Analysen von Infratest dimap haben gezeigt, dass die Hälfte der Stimmen nicht aus Überzeugung für die Union, sondern aus Enttäuschung über die anderen Parteien stammen.

Die Demokratie braucht mehr als ein Update

So viel hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert, technologisch und digital hat sich viel entwickelt. Zugleich schreiten die Gefährdung der Lebensgrundlagen und der Klimawandel rasant voran, weltpolitisch überschlagen sich die Ereignisse und der Einfluss einiger Global Player sowie Lobbyisten auf Staaten und die Politik hat sich massiv ausgeweitet.

Die Parteien versuchen aber mit weniger Personal Politik zu betreiben als vor 30 Jahren. Die Interaktion zwischen Profipolitik und Bevölkerung funktioniert immer weniger. Doch die einzige Systemreform, die in der deutschen Politik ernsthaft angegangen wird, besteht darin, den Bundestag vielleicht wieder etwas zu verkleinern.

Demokratie muss sich immer weiterentwickeln, es muss eine stetige Resonanz zwischen Regierenden und Bevölkerung geben – gerade in einer Repräsentativen Demokratie. Aber wir erleben eine marktkonforme Demokratie, die nach den Bedürfnissen einiger Großkonzerne und der Finanzwirtschaft ausgerichtet wird und wesentliche demokratische Errungenschaften entwertet.

Es bedarf mehr als eines Updates oder einiger Wahlreform. Vor allem müssen wir das Zuschauen, Ignorieren und Abwenden beenden. Kein Gedanke, kein Vorschlag darf abgestempelt werden: Das Wahlalter herabsetzen, die Fünfprozenthürde senken, Leihstimmen zulassen – all das sind sicher die kleineren Stellschrauben.

Weitergehend wäre, wenn bei einer Wahlbeteiligung unter 80 Prozent eben auch nicht alle Mandate besetzt werden dürften. Wie schnell sich die Parteien dann um die Nichtwählenden kümmern würden!

Endlich müsste man das Sponsoring und die Konzernspenden an die Parteien, die hohen Nebenverdienste und die Verquickung von Abgeordneten mit der Profitlobby unterbinden. Dafür müsste eine Aufwertung gerade kleiner Vereine, Initiativen und des Ehrenamts stattfinden.

Vieles liegt längst auf der Hand, nennen will ich aber vor allem noch den Gesellschafts- oder Bürger:innenrat – eine Ergänzung zu den Parlamenten. Menschen, die aus allen Schichten und Altersgruppen ausgelost werden und an einem Thema zeitlich begrenzt Vorschläge ausarbeiten.

Wichtig dabei ist, dass dieses dann als Antrag in den Parlamenten eins zu eins so zur Abstimmung gestellt werden, wobei dann die Abstimmung ohne Fraktionszwang erfolgen muss. Solch ein Rat könnte gerade zu den Regeln des Bundestags und zum Wahlrecht beginnen.

Ich habe insgesamt viele Vorschläge gerade zum Thema Lobbyismus und Transparenz unterbreitet, auch weil ich ja hautnah erlebt habe, wie die Politik in den Parlamenten funktioniert und immer mehr erleben musste, wie sich die Menschen abwenden oder die Orientierung verloren haben.

Doch in einer Demokratie gibt es nie den Königsweg, sondern immer nur einen Wettbewerb der Ideen. Aber genau diesen Wettbewerb lassen wir nicht zu. Dies müssen wir durchbrechen, der Wettbewerb muss moderiert werden und zu einem Ergebnis führen. Klar ist, dass dies nicht den Parlamenten und Parteien überlassen werden darf.

Meine feste Überzeugung ist es, dass wir die wirklichen Probleme und Herausforderungen nur bewältigen können, wenn wir endlich aufhören, immer weniger Demokratie zu wagen.

Menschen müssen mehr denn je nicht Objekt, sondern Subjekt wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Prozesse sein. Sie sollen mitwirken, beteiligt werden und mitbestimmen. So ähnlich äußerte dies einst auch Willy Brandt.

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