Gewalt durch Polizei: "Jeder filmt jeden. Das ist ziemlich destabilisierend"
Frankreich: "Keine große Sache" Die Chefin der Polizeiaufsichtsbehörde will nichts von ausufernder Gewalt gegenüber Demonstranten wissen
Es hatte eine groteske Note, als der türkische Präsident Erdoğan kürzlich die Polizeigewalt in Frankreich anprangerte und dazu aufrief, dort genauer hinzuschauen (Französische Demonstrationen: Erdoğan kritisiert westliche Medien). Aber er hat in der Sache Recht. Es wird in westlichen Medien außerhalb Frankreichs wenig darüber berichtet und die Gewalt der französischen Polizisten gegen Demonstranten hat eine einschüchternde und beängstigende Dimension - "anscheinend außerhalb des normalen Rahmens eines demokratischen Staates" (Mediapart).
Zu sehen ist das an den Fällen, die brutal genug sind, dass eine Diskussion unvermeidbar wurde. So etwa im Fall eines 28-Jährigen, der am 26. Mai in ein Koma fiel, weil ihn bei einer Demonstration gegen das neue Arbeitsrecht eine Polizeigranate traf, die auf das "Zerstreuen von unerwünschten Menschenansammlungen abzielt" (grenade de désencerclement). Die genauen Umstände sind noch nicht geklärt, die Untersuchung läuft wie auch die Diskussion über den Einsatz solcher Waffen
Ende April hatte ein 20-jähriger Demonstrant in Rennes infolge einer schweren Kopfverletzung, mutmaßlich durch einen Flashball-Treffers, das linke Augenlicht verloren. Auch die Umstände dieses Falles werden noch staatsanwaltschaftlich untersucht. Die Präfektur spricht lediglich von einem Treffer durch ein Projektil. Vonseiten der Studenten heißt es, dass die Demonstranten zum Zeitpunkt, als der Mann getroffen wurde, "keine Bedrohung darstellten".
Zu diesen spektakulären Fällen, die von Medien aufgenommen wurden, kommen eine Vielzahl anderer weniger drastischer Verletzungen, die generell abgehandelt wurden, unter der Überschrift der Häufung von Gewalt bei den Demonstranten gegen das Arbeitsgesetz .
Nicht das Gefühl, dass hier eine große Problematik vorliegt
Immerhin war die Polizeigewalt dann das Hauptthema des jährlichen Rapports der Polizeiaufsicht, den die Direktorin der police des polices (IGPN) gestern vorstellte. Madame Marie-France Monéger präsentierte ein verblüffend einfaches Fazit.
Sie habe überhaupt nicht das Gefühl, dass hier eine große Problematik vorliege, zitiert sie Le Monde. "Ce n’est pas grand-chose", auf Französisch, übersetzt werden kann das mit "nicht der Rede wert". Die Zahl der angezeigten Fälle sei gering angesichts der großen Menge der Demonstranten, die auf den Straßen waren.
Es gebe nichts Neues unter der Sonne seit 15 Jahren, sagte sie, nur die Vervielfachung der Kameras und dass die Bilder jetzt ins Netz gestellt werden.
"Jeder filmt jeden. Das ist ziemlich destabilisierend"
Das sei die Veränderung. Man lebe in einer Zeit, in der jeder jeden filmt und das sei "ziemlich destabilisierend", fügte sie hinzu. Unterstützt wurde sie darin vom Chef der Polizeioffiziersgewerkschaft Synergie-officiers, die im politschen Spektrum rechts angesiedelt ist. Patrice Ribeiro von einer "Dysmorphie" der Polizeiaktionen, die durch solche Bilder entstünde.
Die Bilder würden ihres Kontextes beraubt, seien nur Ausschnitte und parteiisch. Die Verbreitung der Bilder brachte auch er in Zusammenhang mit der Destabilisierung des Systems. Sie würden von Dekonstrukteuren des Systems in die Öffentlichkeit gebracht. Die Arbeit zur Aufrechterhaltung der Ordnung sei kompliziert. Es habe keine Vorfälle der harten Gewaltausübung gegeben.
Der letzteren Aussage widerspricht nicht nur, dass die Polizeiaufsicht in 48 Fällen von Gewaltausübung seitens der Polizei die Vorwürfe überprüft und dazu auch in 22 Fällen, die direkt bei der IGPN angezeigt wurden, ermittelt, sondern auch die eingangs genannten auffälligen Einzelfälle.
Auch Journalisten widersprechen in Aufrufen. Selbst Innenminister Bernard Cazeneuve gab in internen Schreiben zu verstehen, dass es ein "problematisches Verhalten der Polizei" gebe.
Pauschales Abwerten kritischer Berichterstattung
Videos, die die Polizeigewalt dokumentieren, wie hier, lassen sich nicht über einen Kamm scheren, wie dies Chefin der Polizeiaufsicht und der Polizeigewerkschaftler versuchen, um ihren Inhalt, die offensichtliche Bloßstellung von Gewalt, zu diskreditieren.
Die Videos werden von unterschiedlichsten Personen angefertigt, von Aktivisten, Beistehern, Demonstranten wie auch von einer neuen Art freier Journalisten.
Man kann annehmen, dass die "User" gelernt haben, genauer hinzuschauen und mehrere Quellen zu konsultieren. Das pauschale Abwerten kritischer Zeugenberichte hat in der Polizeiarbeit Frankreichs auch Tradition, könnte man der Polizeiaufsichtschefin entgegenhalten. Ebenso wie das grenzwertig harte Vorgehen der Polizei gegen Demonstranten, das man schon in den 1970er und 1980er beklagte. Dass dies nun genauer beobachtet wird und die Brutalität ausgestellt werden kann, ist ein Fortschritt.
Die klassische Frage der gewaltsamen Konflikte bei Demonstrationen, wer mit der Gewalt angefangen hat - auch vonseiten der Polizei gab es Klagen über massive Gewalt von Demonstranten, über die auch hierzulande berichtet wurde -, wird bleiben. Aber möglicherweise kann das Filmmaterial auch hier in Einzelfällen bei der Aufklärung helfen.
Im Zusammenhang mit dem Vorwurf der "Systemdestabilisierung" durch solche Videos wäre darauf zu verweisen, dass sich die Medien und auch die Regierung sehr wenig bildkritisch gaben, wenn es um politisch genehmes "Beweismaterial" ging, etwa aus dem Syrienkrieg, wenn damit das Bild bedient wurde, das man sich von Präsident Assad macht, wonach er hauptsächlich mit Gewalt gegen die Bevölkerung vorgeht.