Gilt auch für Gérard Depardieu die Unschuldsvermutung?

Foto (Berlinale, 2010): Siebbi / CC BY 3.0 Deed

Hexenjagd oder Angriff auf Kunst? Präsident Emmanuel Macron spricht sich gegen Zeitalter der Verdächtigung aus. Gibt es ein Recht auf schlechtes Benehmen?

Um die Entwicklung von de Sade zu verstehen, um den Anteil seiner Freiheit in dieser Geschichte zu erfassen, seinen Erfolg und sein Scheitern zu beurteilen, wäre es nützlich, die Fakten seiner Situation genau zu kennen. Leider bleiben Sades Leben und seine Persönlichkeit in vielen Punkten undurchsichtig.

Simone de Beauvoir

Gérard Depardieu (75) erregt wieder einmal die Gemüter. Der Schauspieler wurde in den letzten Wochen von einigen Frauen der sexuellen Belästigung und in einem Fall der sexuellen Nötigung beschuldigt. Dieser Vorgang soll sich allerdings bereits vor 29 Jahren ereignet haben. Depardieu selbst bestreitet alle Vorwürfe.

Anlass der neuesten Erregungswelle ist eine vom französischen öffentlichen Sender France 2 Anfang Dezember ausgestrahlte Dokumentation. Sie ist wiederum vor allem vor dem Hintergrund eines Vergewaltigungsvorwurfs zu verstehen, den die heute 29-jährige Charlotte Arnould bereits vor vier Jahren erhoben hatte.

Das erste Verfahren wurde eingestellt, auch eine von Arnould erwirkte Wiederaufnahme hat bisher keine gerichtlichen Folgen gehabt.

"Ich wiege 124 Kilo, mit Erektion 126"

In der Fernseh-Reportage berichten nun mehrere Personen von einem aus ihrer Sicht "aggressiven" und "grenzüberschreitendem" Verhalten Depardieus. Um strafrechtlich Relevantes geht es darin an keiner Stelle, sondern um Geschmacklosigkeiten.

Depardieu ist zum Beispiel in Nordkorea zu sehen, wo er sich anzüglich bis unflätig über Frauen und Mädchen äußert. Unter anderem ist darin zu hören: "Frauen lieben es, auf Pferden zu reiten, ihre Klitoris reibt am Sattelknopf." Oder an anderer Stelle: "Ich wiege 124 Kilo, mit Erektion 126."

Derlei vulgäre Äußerungen sind aber offenkundig für übersensible Teile der modernen Gesellschaft bereits derart unzumutbar, dass sie zu öffentlichen Angelegenheiten werden, und ihre Urheber vom Sockel zu stoßen und aus dem öffentlichen Bewusstsein zu tilgen sind.

"Vorläufige" Rückzüge in Belgien und der Schweiz

Bisher sind aber auch die Reaktionen vor allem symbolische: Ein paar Talkshow-Promis empörten sich in Talkshows; eine Depardieu-Wachsfigur wurde entfernt; und nicht etwa der französische, sondern der öffentlich-rechtliche Schweizer Rundfunk (RTS) hat Filme, in denen Gérard Depardieu "eine der Hauptrollen" spielt, "vorläufig" aus seinem Programm genommen.

"Seit den jüngsten Enthüllungen über Gérard Depardieu hat RTS es vermieden, Filme anzubieten, in denen er eine der Hauptrollen spielt. Deshalb wurden ein oder zwei Filme während der Festtage beiseitegelegt", sagte ein RTS-Sprecher der französischen Nachrichtenagentur AFP.

Wenn wir das Gefühl haben, dass sich das Publikum durch ein Werk oder eine Persönlichkeit, die bis dahin akzeptiert war, in hohem Maße verletzt fühlen könnte, nehmen wir es vorübergehend aus unserem Programm heraus.

RTS

RTS weist allerdings darauf hin, dass es sich dabei um "eine pragmatische Entscheidung handelt, die wir je nach Entwicklung der Situation ohne festen Zeitplan und vorbehaltlich des rechtlichen Verfahrens neu überdenken werden".

Der belgische Sender RTBF hat eine ähnliche Entscheidung getroffen. Man werde Filme mit Depardieu in der Titelrolle vorläufig zurückziehen, wie die Fernsehanstalt mitteilte. Sendungen, bei denen sein Erscheinungsbild eher "reduziert" sei, würden jedoch weiter ausgestrahlt.

"Es gibt eine Sache, bei der Sie mich nie sehen werden, und das sind Menschenjagden"

In einer besonders eiligen Reaktion hatte die französische Kulturministerin Rima Abdul Malak angekündigt, dass eine Untersuchung eingeleitet wurde, um Depardieu die Mitgliedschaft in der Ehrenlegion abzuerkennen. Diese ist die höchste und wichtigste nationale Auszeichnung, die eine Person in Frankreich erhalten kann. Depardieu sei eine "Schande für Frankreich".

Daraufhin wurde sie von ihrem Präsidenten zurückgepfiffen: "Es gibt eine Sache, bei der Sie mich nie sehen werden, und das sind Menschenjagden", sagte Emmanuel Macron im französischen Fernsehsender France 5. "Ich verabscheue das."

Die Kulturministerin habe sich zu sehr "vorgewagt", als sie von der Aberkennung der Ehrenlegion Depardieus gesprochen habe, befand der Staatschef. Als Hüter dieser Auszeichnung denke er nicht daran, Depardieu die Ehrenlegion abzusprechen, solange er nicht verurteilt sei.

Die Medaille zeichne kein "moralisches" Verhalten aus, sondern ein Lebenswerk. Der Präsident nahm Depardieu in Schutz: Er sei ein "großer Bewunderer" dieses "großartigen Schauspielers", der Frankreich "bekannt gemacht" habe, und "stolz" mache. Macron will von den Vorwürfen nichts wissen.

Es gebe, sagte er, "vielleicht Opfer, aber es gibt auch die Unschuldsvermutung". Man dürfe nicht in ein "Zeitalter der Verdächtigung" abrutschten.

Inzwischen hat Depardieu zwar beleidigt seine Mitgliedschaft in der Ehrenlegion dem französischen Kulturministerium "zur Verfügung gestellt". Dies haben seine Anwälte erklärt – verbunden mit der süffisanten Frage, ob die Ministerin mit dem von ihr eingeleiteten Verfahren "nicht einen weiteren Schlag gegen die bereits sterbende Unschuldsvermutung" führe.

Der Präsident will von alldem nichts wissen: Er zog die Glaubwürdigkeit der Fernseh-Reportage in Zweifel. Er sei vorsichtig, was die Aussagen in dieser Dokumentation betreffe, so Macron.

Unhold, Vielfraß, Menschenfresser

Besagte Fernsehreportage ist übrigens selbst nicht weniger vulgär als ihr Objekt. Sie trägt den Titel "La chute de l’ogre", also etwa "Der Sturz des Unholds". Ein "Oger" war ursprünglich eine Figur aus den Fabeln von Charles Perrault, sie könnte ebenso mit "Vielfraß" übersetzt werden, wie auch mit "Monster", bezeichnet aber auch einen "Menschenfresser".

Depardieus Maßlosigkeit und sein impulsives Wesen, seine Lust an Provokationen und Grenzüberschreitungen sind bekannt und gefürchtet. Er hat regelmäßig Probleme wegen Trunkenheit am Steuer; es gibt Vorwürfe wegen Steuerflucht, seiner Sympathie zu Russland und der persönlichen Freundschaft mit Vladimir Putin.

Schnell meldeten sich Unterstützer, darunter die Regisseurin Josée Dayan, Depardieus Ex-Frau Elisabeth Depardieu (die keine Sekunde lang an die Geschichten glaubt, wie sie in der Fernsehreportage sagte) und seine Ex-Frau Carole Bouquet.

Diese sagte im französischen Fernsehen über Depardieu, sie habe ihn "im nüchternen und trunkenen Zustand erlebt", er habe "natürlich einen derben Humor", würde aber "niemals einer Frau etwas antun".