Gilt das durch Corona-Notstandsmaßnahmen verbotene Versammlungsrecht online?

Im Internet wurde "vergessen", das Grundgesetz zu garantieren. Die Bundesregierung verordnete schon 2012, Versammlungsfreiheit beziehe sich nur auf die physische Anwesenheit "im realen öffentlichen, und nicht im virtuellen Raum"

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Versammlungen sind derzeit im öffentlichen Raum verboten. Man darf sich nur alleine oder mit Angehörigen, die im selben Haushalt wohnen - was ist eigentlich mit Wohngemeinschaften? - im öffentlichen Raum aufhalten. In manchen Bundesländern auch noch mit einer weiteren Person, die nicht im eigenen Haushalt wohnt.

Unabhängig von der Personenzahl sind Feier, Grillen oder Picknicken, aber auch das grundgesetzlich verankerte Recht, "sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln". Das kann zwar im öffentlichen Raum eingeschränkt werden, derzeit sind aber auch Versammlungen - etwa Osterfeiern - in Innenräumen, selbst in der eigenen Wohnung verboten.

Zum Versammlungsrecht gehört auch das Demonstrationsrecht. Demonstrationen müssen angemeldet sein, die Teilnehmer dürfen nicht uniformiert oder vermummt sein. Nun könnte man womöglich argumentieren, dass das Tragen von Mund-Nase-Schutzmasken bei politischen Kundgebungen das Vermummungsverbot verletzt. Aber selbst bei Beachtung von Abstandsregeln sind politische Kundgebungen gegen die Notstandsgesetze verboten - oder werden als verboten von den Sicherheitsbehörden behandelt, auch wenn dies verfassungsrechtlich ungeklärt ist (Wenn Demonstranten zu "Gefährdern" erklärt werden).

Nach einem Aufruf zu einer "Hygienedemo" in Berlin konnten gegen 15.30 Uhr am Rosa-Luxemburg-Platz 40 Personen festgestellt werden. Noch bevor die Kundgebung stattfand, wurden durch die Einsatzkräfte Platzverweise ausgesprochen und die Kundgebung untersagt. In diesem Zusammenhang leiteten die Beamtinnen und Beamten 17 Strafermittlungsverfahren u.a. wegen Verstößen gegen das Infektionsschutzgesetzes und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte ein.

Mitteilung der Polizei am 29. März

Gesundheit und Schutz des Lebens, so die Regierungen und Behörden, rangieren vor dem Versammlungsrecht und vor der Meinungsfreiheit im öffentlichen Raum. Versammlungen, auch wenn sie im nötigen Sicherheitsabstand stattfinden, erhöhen das Ansteckungsrisiko. Daher sind demokratische und rechtstaatliche Prinzipien durch die verordneten Hygiene-Regeln ausgehebelt. Wer will, kann seine Proteste ja online im digitalen Raum vorbringen, der zwar vor biologischen, aber nicht vor digitalen Viren geschützt ist, so ist die Rede.

Online-Demonstrationen sind ein Witz

Folgsam verlegen denn auch Bewegungen wie Fridays For Future ihre sowieso angesichts der Pandemie erlahmenden Proteste ins Internet. Das ist nett und rührend, wenn Schüler Schilder mit ihren Botschaften machen, sich damit fotografieren und die Fotos auf kommerzielle Medien wie Twitter oder Instagram veröffentlichen. Oder es wird vom freien zusammenschluss von student*innenschaften (fzs) zu einer "Online-Demo zur Corona-Bildungskrise" aufgerufen: "Schüler*innen- und Student*innenorganisationen haben sich zusammengetan, um ab dem 2. April eine Woche lang gemeinsam unter dem Hashtag #Bildungskrise online zu demonstrieren. Mit individuellen Bildern, Videos und Texten sollen die Auswirkungen auf die Bildung sichtbar machen."

Im Gegensatz zu Demonstrationen im öffentlichen Raum, die den Verkehr behindern und auch durch massenhafte Beteiligung mediale und politische Aufmerksamkeit hervorrufen, haben solche Online-Proteste keine Wirkung. Sie finden in einem privaten Raum in irgendeiner Enklave statt, die vielleicht von einigen Internetnutzern besucht wird. Das ist so, als würde eine Demonstration nicht in einer Stadt, sondern irgendwo auf dem Land auf einer Wiese stattfinden. Stören tut das niemand, dementsprechend gering ist die Wirkung.

Wir haben zwar immer wieder von Law-and-Order-Politikern die Forderung gehört, dass das, was offline gilt, auch online gelten müsse. Aber niemand hat gefordert, dass das, was offline gilt, auch online gelten muss. Demonstrationen bis hin zu Blockaden als ziviler Ungehorsam finden im öffentlichen Raum statt, der eine wichtige Infrastruktur jedes Gemeinwesens ist. Aber wo sind im Internet die vom Staat geschaffenen und erhaltenen Straßen und Plätze, die Menschen und Verkehr uneingeschränkt, wenn auch unter Regeln, nutzen können und auf denen sie das Recht haben, sich zu versammeln und Proteste zu organisieren?

Es gibt sie nicht. Im Internet ist alles privat, auch die Straßen und Plätze. Schon wenn man das Internet betritt, gilt nicht die Verfassung, sondern die wie immer auch staatlich regulierten Ordnungen von Konzernen, die ihre Kunden - die primär keine Bürger, sondern Kunden oder Gäste sind - auch nach Belieben ausspähen. Das Internet ist vom US-Militär erfunden worden, um die Kommunikation auch nach einem Atomkrieg aufrecht erhalten zu können, wenn einige Knoten zerstört wurden. Ein öffentlicher Raum war hier nicht vorgesehen.

Vorübergehend wurde das Internet zwar dann vor allem von Universitäten mit großen Freiheiten ausgebaut, bis die Kommerzialisierung einsetzte. Man wähnte, mit dem Internet eine Agora zu haben und glaubte, dass das Internet die Demokratie befördern könne. Aber die Online-Agora ist eben kein öffentlicher Platz einer Polis, die auch die Weltgemeinschaft sein könnte, sondern privates Gebiet von Konzernen, heute meist Anbietern von Sozialen Netzwerken, die ein Hausrecht besitzen und jederzeit in die Meinungs- und Versammlungsfreiheit eingreifen können.

Die Politik auch in den demokratischen Staaten hat "vergessen", einen öffentlichen Raum im Internet zu schaffen. Diesen für Blockaden oder Sit-Ins zu beanspruchen wurde schnell als Terrorismus verortet. In Deutschland wurde von der Regierung bislang nicht revidierte Klarheit geschaffen, dass das Grundgesetz mit dem Recht auf Versammlungsfreiheit im Internet nicht gilt.

Versammlungen setzten "die gleichzeitige körperliche Anwesenheit mehrerer Personen an einem Ort" voraus

Es gab in Deutschland im Juni 2001, also noch vor 9/11, eine Aktion, die das Problem deutlich gemacht hatte, aber weitgehend dem Vergessen anheimfiel. Aktivisten von "kein mensch ist illegal" und "Libertad", die gegen Abschiebung von Flüchtlingen protestierten, hatten zu einer zweistündigen Blockade der Website der Lufthansa aufgerufen, mit deren Maschinen "jährlich etwa 10.000 Abschiebungen" durchgeführt wurden. Über eine Mail wurde das virtuelle Sit-in gegen die Website Lufthansa.com auch bekannt gegeben und dem Ordnungsamt in Köln - dem Hauptsitz der Lufthansa - mitgeteilt. Mitstreiter sollten sich ein Programm des Electronic Disturbance Theatre herunterladen, das die Website immer wieder aufruft.

Schon im Vorfeld des virtuellen Sit-ins gegen die Lufthansa, das als "Sitzblockade am Eingang des Internetauftritts der Lufthansa" ausgegeben wurde, hatte das Bundesjustizministerium erklärt, dass solche Aktionen kein legitimes Mittel zur politischen Meinungsäußerung sein können und gleich mehrere Straftatbestände erfüllen könnten. Apodiktisch hieß es, dass das Versammlungsrecht im Netz nicht gültig sei: "Unser Haus hält es für zweifelhaft, dass sich die Initiatoren auf das Demonstrationsrecht berufen können", erklärte Maritta Strasser, Sprecherin des Bundesjustizministeriums, im Juni 2001. Die im Artikel 8 Grundgesetz garantierte Versammlungsfreiheit beziehe sich nur auf die physische Anwesenheit "im realen öffentlichen, und nicht im virtuellen Raum".

Es kam zu einem Rechtsstreit gegen die Organisatoren, der allerdings für diese glimpflich ausging. Aber die Bundesregierung bekräftigte 2012 auf eine Anfrage der Linken (Drucksache 17/10379), dass bei "einer Nutzung von Computerprogrammen zur Herbeiführung einer 'Denial-of-Service-Attack'" eine "Strafbarkeit wegen Computersabotage" in Frage komme. Auch wer solche Programme verbreite, kann sich strafbar machen. Entlarvend ist schon die Terminologie, von einer "Attacke" zu sprechen. "Massen-Email-Proteste" seien aber legitim und würden nicht mit der Absicht einhergehen, einem anderen Schaden zuzufügen. Sie sind von der Meinungsfreiheit gedeckt. Betont wird aber, dass im Sinne des Artikels 8 des GG virtuelle Versammlungen keine verfassungsrechtlichen "Versammlungen" seien. Die würden, man bleibt dabei, "die gleichzeitige körperliche Anwesenheit mehrerer Personen an einem Ort" voraussetzen.

So einfach ist das, und so klar ist, dass online entscheidende Grundrechte ausgehebelt sind. Es wäre höchste Zeit, das rechtlich und politisch zu klären, gerade im gesundheitlichen Notstand. Aber offenbar denken Politiker auch der Opposition ebenso wenig daran wie außerparlamentarische Bewegungen, die ihre Proteste online durchführen wollen und auf dem Abstellgleis landen.