Give Peace a Chance

Foto: Jeff Kingma/Unsplash

Kein Ende des Tötens und Zerstörens im Ukraine-Krieg: Wie bestimmte Narrative Friedensverhandlungen verhindern.

1924 veröffentlichte der Friedensaktivist Ernst Friedrich den Bildband "Krieg dem Kriege".

Darin gezeigt werden kommentierte Fotos, die die ungeschminkte Fratze des Ersten Weltkriegs offen legen: Massengräber, geschundene Leichen, Exekutionen, zerschossene Gesichter von Überlebenden, Menschen mit fehlenden Körperteilen. Es sind unerträgliche Dokumente, die Friedrich nur aus einem einzigen Grund zur Schau stellte: Damit niemand jemals vergisst, wie inakzeptabel dieses Konzept "Krieg" ist.

15 Jahre später begann der Zweite Weltkrieg – mitgetragen von einer Bevölkerung, die bereits verdrängt hatte, wohin Kriege zwangsläufig führen.

Ob im Bekanntenkreis oder im Bundestag – bei Diskussionen über den Ukraine-Krieg, der genau jetzt in drei Flugstunden Entfernung tobt, sollte man allem voran die entsetzliche Kriegsrealität vor Augen haben.

• Seit dem 24. Februar haben (je nach Quelle) zwischen 24.000 und mehr als 100.000 Menschen ihr Leben verloren.

• Ungezählte Opfer sind für den Rest ihres Lebens versehrt. Häufige Kriegsverletzungen sind abgetrennte Gliedmaße oder schwere Verbrennungen.

• In den ärmeren Weltregionen wirken sich die vom Ukraine-Krieg maßgeblich mitverursachten Preissteigerungen bei Nahrungsmitteln, Düngemitteln und Transport verheerend auf die Ernährungslage aus.

Im wohlhabenden Westen trägt, nach aktueller IWF-Prognose, Deutschland die Hauptlast der kriegsbedingten Russlandsanktionen und fällt in die Rezession.

• Nachdem Russland das leistungsstärkste europäische Kernkraftwerk Saporischschja erobert und dort eine Militärbasis errichtet hat, wird das Gelände von (mutmaßlich ukrainischer) Artillerie und Drohnen beschossen. Laut internationaler Atomenergiebehörde droht eine nukleare Katastrophe.

• Während Russland aktuell in die militärische Defensive gerät, verweisen die Kriegsherren im Kreml auf mögliche Atomwaffeneinsätze. Angela Merkel, die nicht für Panikmache steht und Putin wohl besser kennt als jeder westliche Politiker, rät, diese Drohungen ernst zu nehmen.

• Der Ukraine-Krieg ist eine Umweltkatastrophe. Ein Beispiel: Russische Gasförderer fackeln täglich nicht auslieferbares Gas im Wert von 10 Millionen Dollar ab und verursachen dadurch gigantische CO2-Emissionen. Im Westen fehlt dieses Gas und soll u. a. durch Kohle- und Atomenergie ersetzt werden. Zusätzlich hat die Sabotage der Ostseepipelines Methan mit einem Klimaäquivalent von mehreren Millionen Tonnen CO2 freigesetzt.

Diese Liste des Schreckens haben insbesondere Putin, seine Regierung und seine Militärführung zu verantworten.

Nato wünscht offenbar keine Friedensverhandlungen

Dass es für Friedensprozesse entscheidend ist, die Gemeinschaft um die Konfliktparteien herum einzubeziehen, gilt in der Friedens- und Konfliktforschung als selbstverständlich. Militärisch aktive Kontrahenten sind extrem emotionalisiert und ohne mäßigenden Einfluss von außen nur bedingt in der Lage, Entscheidungen für ein Ende der Gewalt zu treffen.

Die aktuelle Realität ist jedoch folgende: Obwohl die Ukraine kein Nato-Mitglied ist, sehen sich die Nato-Staaten in der Verantwortung, die ukrainische Gegenwehr mit sehr viel Geld, Waffen und Kriegs-Know-how aufrecht zu erhalten.

Aber wie viel länger muss die Liste des Schreckens noch werden, damit sich dieselben Nato-Staaten auch in der Verantwortung sehen, einen Friedensprozess anzustoßen?

Selbst laufende Verhandlungen, wie etwa die Istanbul-Gespräche im März, wurden nicht sichtbar unterstützt. Offenbar hatte man sich bereits im Dezember festgelegt, dass ein Krieg akzeptabler sei als eine Kompromisslösung.

Putin teilte Biden mit, dass der Antrag der Ukraine auf Nato-Beitritt abgelehnt werden müsse, um im Gegenzug die Zusicherung zu erhalten, dass die russischen Truppen nicht zuschlagen. Biden akzeptierte Putins "rote Linien" bezüglich der Ukraine (...) nicht.

CNBC-Meldung, 08.12. 2021; eigene Übersetzung

Nach allem, was öffentlich bekannt ist, stellt sich die Verhandlungsbereitschaft bei den drei Hauptakteuren folgendermaßen dar:

• Die tatsächliche Kompromissbereitschaft der russischen Führung ist aus deren vagen Aussagen kaum herauszulesen. Das Thema "Verhandlungen" wird immer wieder in den Raum gestellt und im Mai hat Russland sogar eine entsprechende Erklärung des UN-Sicherheitsrats mit unterzeichnet (die allerdings sehr unkonkret formuliert ist).


Die Rhetorik zu einem möglichen Biden-Putin-Gespräch auf dem kommenden G20-Gipfel ist typisch für diese nie wirklich greifbare russische Kommunikation.

• Nachdem sich die ukrainische Führung in den ersten Kriegswochen Friedensgesprächen gegenüber offen zeigte, hat sie etwa Mitte April umgeschaltet, und schließt Verhandlungen mit Putin mittlerweile ausdrücklich aus – seit 30. September sogar per Präsidenten-Dekret. Die Möglichkeit mit anderen russischen Entscheidungsträgern zu verhandeln, bleibt aber formal bestehen.

• Vonseiten der Nato deuten bis heute nahezu alle Äußerungen – und insbesondere die Nicht-Äußerungen – darauf hin, dass keine Friedensverhandlungen angestrebt werden. Damit agiert man gegen eine Resolution der UN-Vollversammlung, die man selbst unterschrieben hat: "sofortige friedliche Beilegung des Konflikts (...) durch politischen Dialog, Verhandlungen, Vermittlung und andere friedliche Mittel"

Nach aktuellem Stand läuft insbesondere die Position der Ukraine in letzter Konsequenz darauf hinaus, das gegenseitige Abschlachten bis zum Siegfrieden oder als langwieriger Zermürbungskrieg weiterzuführen.

Die Nato-Staaten pflichten dem offensichtlich bei, und Russland hat als Aggressor nur die Wahl, zu kapitulieren oder seinen Weg der Gewalt weiterzugehen.

Warum entfaltet der Ruf nach Verhandlungen keine Durchschlagskraft?

Obwohl in Deutschland eine große Mehrheit meint, der Westen solle Friedensverhandlungen anstoßen, findet man eine proportionale Abbildung dieser Position weder in den Medien noch im Bundestag oder der Bundesregierung. Es stellt sich die Frage, warum der Ruf nach Verhandlungen so wenig Durchschlagskraft entfaltet.

Unabhängig davon, ob es um Geflüchtete, um Corona oder um den Ukraine-Krieg geht: Gerade bei schwerwiegenden Problemlagen neigen wir alle dazu, zeitnah eine Meinungsposition einzunehmen, an der wir dann beharrlich festhalten.

Politische Akteure kennen dieses Phänomen und treiben deshalb in der Frühphase jeder bedeutenden Krise enormen Aufwand, um ihre Interpretation des Geschehens in den Köpfen der Bevölkerung zu verankern. Möglichst viele Menschen sollen Ereignisse so beurteilen, wie die Meinungsmacher das möchten, sollen also deren "Narrative" übernehmen.

Dass gezielte Beeinflussung insbesondere über die emotionale Schiene funktioniert, gilt sozialwissenschaftlich sowie neurowissenschaftlich als belegt. Trotzdem sind wir subjektiv davon überzeugt, uns unsere Meinung eigenständig und aufgeklärt zu bilden. Manipulierbar sind immer nur die anderen.

Russland betreibt in großem Umfang sowohl propagandistische als auch repressive Meinungsdurchsetzung. Im Folgenden soll es aber um Deutschland gehen; konkret um drei Narrative, die seit Kriegsbeginn zum Thema "Friedensverhandlungen" besonders lautstark platziert werden.

Narrativ 1

Wer für Verhandlungen mit Russland eintritt, unterstützt Putin, hat keine Empathie für die ukrainische Bevölkerung und ignoriert, mit welcher Brutalität Russland diesen Krieg führt.

Häufig wird die Forderung nach Friedensverhandlungen mit der Kapitulation der Ukraine und/oder dem sofortigen Stopp aller Waffenlieferungen gleichgesetzt. Entsprechende Debatten erscheinen zur Zeit allerdings wirklichkeitsfern. Die realistischere Option ist, dass Verhandlungen parallel zu den Kämpfen (oder im besten Fall zu einem Waffenstillstand) stattfinden.

Sicher wünschen sich Millionen Ukrainer das militärische Zertrümmern aller russischen Kriegsziele. Dieser Wunsch deckt sich allerdings kaum mit den Ergebnissen, die bei kompromissoffenen Friedensverhandlungen zu erwarten wären.

Aber was ist mit den Menschen, die das Pech haben, direkt in den umkämpften Kriegszonen zu leben, und die sich vielleicht nur noch wünschen, dass das alles endlich aufhört? Nicht jede Mutter, die bei einem Raketenangriff mit ihrem Kind im Luftschutzkeller eines brennenden Wohnviertels hockt, wird der Krim-Rückeroberung höchste Priorität einräumen.

Wer sich aus deutscher Perspektive für Friedensverhandlungen zur möglichst raschen Beendigung des gegenseitigen Tötens einsetzt, hat vermutlich genau diese Hauptleidtragenden im Blick. Ausgerechnet solchen Leuten Empathielosigkeit und Ignoranz der russischen Brutalität vorzuwerfen, ist ein großes Missverständnis.

Narrativ 2

Verhandlungen sind allein Sache der direkten Kriegsparteien Ukraine und Russland.

Auch wenn die Kampfhandlungen auf ukrainischem Territorium stattfinden, sind Nato-Länder als Finanziers und Waffenlieferanten stark involviert. Die Ukraine ist in hohem Maße von externem Support abhängig.

Zudem ist insbesondere Europa über seine beispiellose Sanktionspolitik und die Energieträger-bezogenen Gegenmaßnahmen Russlands massiv von den Ereignissen betroffen. Hinzu kommt: Wer Waffen in ein Kriegsgebiet liefert, steht in besonderer Verantwortung.

Vor diesem Hintergrund erscheint es weder angemessen noch glaubwürdig, dass der Westen so auftritt, als ginge ihn das Thema "Friedensverhandlungen" nichts an.

Insbesondere die USA haben spätestens seit 2013 sowohl zum Euromaidan als auch zur anschließenden Aufrüstung und Ausbildung der ukrainischen Armee maßgeblich beigetragen. Seit der russischen Invasion nehmen sie für die militärische Verteidigung der Ukraine mehr Geld in die Hand, als alle anderen Geberländer zusammen.

Es erscheint höchst unwahrscheinlich, dass eine von den USA dominierte Nato bei der zentralen Frage "Siegfrieden oder Verhandlungsfrieden" auf jegliche Einflussnahme verzichtet.

Das gewaltige Engagement der USA legt nahe: Sollte die Biden-Administration irgendwann Friedensverhandlungen wünschen, würde dieses Thema einen ganz neuen Stellenwert bekommen. Derzeit wünscht sie dies offenbar nicht.

Im bisherigen Kriegsverlauf haben diplomatische Initiativen kaum eine Rolle gespielt. Dies hat vielleicht auch damit zu tun, dass die USA zu Kriegen im Ausland, als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, ein ganz anderes Verhältnis haben als etwa wir Deutsche.

Narrativ 3

Verhandlungen mit Russland sind sinnlos, weil Putin ein Kriegsverbrecher und Lügner ist, dem man niemals vertrauen kann, und dem jegliche Kompromissbereitschaft fehlt.

Ein beliebtes Argument lautet: Mit Hitler konnte man ja auch nicht verhandeln. Das mag stimmen, aber Hitler war ein Sonderfall. Als Fanatiker des totalen Kriegs tickte er nach dem Prinzip: Endsieg oder Kämpfen bis zum letzten Mann – und bei Niederlage Suizid. Diesen Eindruck vermittelte Putin bisher nicht. Putin und Lawrow erwähnen das Thema "Verhandlungen" auffällig oft, was angesichts des aus russischer Sicht desaströsen Kriegsverlaufs wenig überraschend ist.

Wer Putins politische Zielformulierungen über die Jahre verfolgt hat und die Ereignisse seit Kriegsbeginn beobachtet, gewinnt zunehmend den Eindruck, dass er sich mit dieser "Spezialoperation" seinen eigenen Alptraum schafft.

Der Impuls, mit dem Feind nicht verhandeln zu wollen, ist verständlich, aber geschichtsvergessen. Obwohl bei militärischen Konfrontationen größtes Misstrauen immer allgegenwärtig ist, gibt es viele Beispiele erfolgreicher Friedensverhandlungen.

Selbst der völlig verfahrene und unvorstellbar grausame 30-jährige Krieg konnte in zähen Verhandlungen beendet werden. Seitdem haben sich die damaligen Erfolgsregeln viele Male bewährt und gelten bis heute.

• In Friedensverhandlungen geht es nicht um die Frage, ob der Gegner Zugeständnisse verdient hat. Es geht darum, Leben zu retten, Zukunft zu gestalten und Sicherheit für alle Kriegsparteien herzustellen. Sobald man Wahrheits- und Schuldfragen einbezieht, wird es kein Weiterkommen geben.

In den Verhandlungen des 30-jährigen Krieges war man sogar bereit, das bis heute sprichwörtliche Prinzip "Alles vergeben und vergessen" einzuführen. Amnestien widersprachen dem Gerechtigkeitsempfinden der Verhandlungsteilnehmer, aber sie wurden als die einzige Möglichkeit für eine Übereinkunft erkannt. Kriegsfortsetzung oder Neuanfang – das waren die Alternativen.

• "Baue dem Gegner eine goldene Brücke, über die er sich zurückziehen kann." (Sun Tzu) Das ist kein billiger Kalenderspruch, sondern eine oftmals bittere Notwendigkeit, die zu den Basics jeglicher Verhandlungen gehört. Friedensverhandlungen funktionieren nur dann, wenn für jede Seite ein irgendwie akzeptabler Rückzugsweg im Angebot ist. Konkret bedeutet dies: Alle Kriegsparteien müssen zu Zugeständnissen bereit sein.

• Nicht nur die unmittelbaren Kriegsgegner, sondern auch weniger involvierte Staaten sowie internationale Organisationen gehören mit an den Verhandlungstisch – unter anderem als Vermittler. Sobald konkrete Regeln für einen Interessenausgleich gefunden sind, müssen aus diesem Umfeld heraus alle Übereinkünfte überwacht und deren Einhaltung mit überzeugenden (ggf. auch militärischen) Garantien abgesichert werden.

Darüber hinaus ist die Unterstützung des Wiederaufbaus von zentraler Bedeutung.


• Zentrale Elemente genannter Prinzipien wurden etwa beim Versailler Friedensvertrag missachtet, womit maßgebliche Weichen für den Zweiten Weltkrieg gestellt waren.

"Versöhnung nicht die Ausnahme, sondern die Regel"

Der Historiker Stephan Elbern kommt mit seinem Buch über die Geschichte der Friedensabschlüsse zu folgendem Fazit:

Die Kunst, die beiderseitigen Interessen durch Verhandlungen auszugleichen (...) ist in unserer Zeit verloren gegangen. (...) Wir sind hinter das völkerrechtliche und moralische Niveau des Alten Orients zurückgefallen.

Stephan Elbern

Dennoch zeigt die Geschichte, dass Versöhnung nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist. Auf Phasen erbittertster Kriege folgen Friedenszeiten – häufig einhergehend mit Phasen der Annäherung. Beispiele sind die USA und Japan nach den US-Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki; Deutschland und Frankreich nach mehreren Kriegen über mehrere Jahrhunderte; Polen und die Ukraine nach den Wolhynien-Massakern, einem Völkermord mit bis zu 100.000 polnischen Opfern.

Die entscheidende Frage ist meist nicht, ob, sondern wann das gegenseitige Töten und Zerstören endet, und wie viele Menschen bis dahin Kriegsopfer werden.