Godwin's Law auf Islamistisch
Der "Takfir"-Vorwurf nimmt in dezidiert moslemisch ausgerichteten Foren die Position ein, welche im restlichen Internet dem Nazivergleich zukommt
Ein 1990 von Mike Godwin formuliertes Gesetz besagt, dass mit zunehmender Dauer einer Online-Diskussion die Wahrscheinlichkeit, dass Hitler oder die Nazis ins Spiel gebracht werden, gegen 1 geht. Ist solch ein Vergleich einmal gemacht, dann stirbt die Diskussion meist ab. In islamistischen Diskussionsforen gilt Godwin's Law nur bedingt: Dort erfüllt der Takfir-Vorwurf diese Funktion.
Takfir bezeichnet den Prozess, andere Moslems zu Ungläubigen (Kufar, singular: Kafir) zu erklären. Auch das aus dem Afrikaans in das Deutsche gelangte Wort "Kaffer", mit dem sowohl die arabischen Händler als auch die nach Südafrika verbrachten Malaien die einheimischen Khoe und Bantu bezeichneten, geht auf diesen Ursprung zurück.
Takfir-Vorwürfe gibt es nicht erst, seit es Internet-Foren gibt, sondern bereits seit dem ersten Kalifen, Abu Bakr, der Stämme, die zwar beten, nicht aber die Zakat-Steuer zahlen wollten, für ungläubig erklärte. Zu einer ersten Blüte gelangte Takfir bei den Charidschiten. Die glaubten, dass schon der Akt der Sünde allein einen Moslem zum Kafir machen würde. Im Krieg mit dem Umayyaden-Kalifat ließ sich diese Sichtweise ausgezeichnet als Rechtfertigung nutzen, mit der zivile Opfer entschuldigt werden konnten. Aus dieser radikalen Position entwickelte sich die gemäßigtere orthodox-sunnitische Position, dass eine Sünde einen Moslem noch nicht zum Kafir macht, wohl aber die Leugnung fundamentaler Glaubensprinzipien. Je enger man allerdings diese fundamentalen Glaubensprinzipen fasst, desto einfacher lassen sich andere Moslems zu Kufar erklären.
Von Takfir wal-Hijra zu Takfir al gusto
Die radikale Salafistengruppe Takfir wal-Hijra, die in den 1960er Jahren in Ägypten entstand, wendete dieses Prinzip nicht nur exzessiv an, sondern führte in diesem Zusammenhang auch die vorher nur im schiitischen Islam verbreitete "Tugend der Täuschung", die Taqiyya, in den radikalen sunnitischen Islam ein. Weil nach Ansicht der Takfir wal-Hijra auch die Mehrheit der Bevölkerung der islamisch besiedelten Länder vom Glauben abgefallen war, sahen es ihre Anhänger teilweise als erlaubt an, sich den Bart abzurasieren, den Schleier abzulegen und Alkohol zu trinken – aber nur, um dadurch die Kufar zu täuschen und ihre Staaten und Gesellschaftssysteme zum Einsturz zu bringen. In ihrem Ursprungsland Ägypten hatte die Gruppe bemerkenswert großen Zulauf von Seiten junger Frauen, die ihrer Gehorsamspflicht als Töchter dadurch entgingen, dass sie ihre Familie zu Kufar erklärten.
Die Takfir wal-Hijra hatten großen Einfluss auf die algerische GIA, die sich mit Hilfe der Argumente der radikalen Ägypter keine Gedanken über zivile Opfer machen mussten, da ihrer Interpretation nach jeder, der die Regierung nicht aktiv bekämpfte, vom Glauben abgefallen war. 1996 planten Takfir-wal-Hijra-Anhänger angeblich ein Attentat auf Osama bin Laden, der in ihren Augen ebenfalls ein Kafir war – nicht anders als die Taliban in Afghanistan.
Vor drei Jahren sollte eine Gruppe von Geistlichen in der jordanischen Hauptstadt Amman die Praxis des überschäumenden Takfir eindämmen. Was dabei heraus kam, war, dass es verboten ist, einen Moslem zum Kafir zu erklären – eine relativ wirkungslose Einschränkung, da mit dem Takfir ja gerade das Moslem-sein abgesprochen wird, und es deshalb rein logisch den in Amman verbotenen Fall gar nicht geben kann. Und so ging die Praxis des Takfir al gusto munter weiter: Cem Uzan, Kandidat einer türkischen Korruptionsdynastie, kam unlängst mit einem Takfir-Vorwurf gegen den gemäßigten Islamisten Erdogan aus dem Stand auf Umfragewerte von 11%.
Pakistan entrechtete qua Takfir die Ismailiten und der Iran die Baha'i – und auch in Internet-Foren lassen sich mit diesem Vorwurf sowohl Einzelpersonen als auch ganze Gruppen bedenken: Beliebte Takfir-Anknüpfpunkte sind Diskussionen über Schiiten, Alewiten, Ahmadis, Sufis, Drusen, Jesiden, Al-Habash und Nusairier.
GIMF und Ahl us-Sunnah wal-Jamaa'ah
Eigentlich sitzt auch bei der "Globalen Islamischen Medienfront" (GIMF) der Takfir-Vorwurf geradezu neocharidschitisch locker: In dem mit der Gruppe assoziierten Blog von Scheich Nasir bin Hamad al-Fahd etwa wird jeder, der Amerika "hilft" zum Kafir erklärt. Trotzdem wurde in den GIMF-Foren einer Teilnehmerin namens "Ummu Hamza al-Muhajira" der Zugang mit dem Vorwurf gesperrt, sie sei Charidschitin. Ebenfalls nicht gern gesehen sind bei der GIMF Argumente des in Kuwait lebenden Abu Mariam Abdulrahman bin Tala´Al-Mikhlif, sowie solche von Abul Khattab, Abu Hamza und – ganz besonders - Beiträge aus einem schwäbischen Konkurrenzforum, der vom Augsburger Tarek Heers betriebenen "Ahl us-Sunnah wal-Jamaa'ah" ("Gemeinschaft der Sunniten"). Diskussionsleiter "Garib Aldiyar" verlautbarte: "Wer nur einmal von dieser Seite irgendetwas hierher postet, wird auf der Stelle aus der Mitgliederliste gelöscht." Was war der Grund dafür?
So wie Senator Joseph McCarthy ab dem Zeitpunkt entmachtet wurde, ab dem er begann, das amerikanische Militär der kommunistischen Umtriebe zu bezichtigen, so hört auch bei der GIMF der Takfir-Spass auf, wenn es um die "Mudschahidin" geht. Gemeint sind damit Osama bin Laden und seine Freunde. Und genau die hatten die Forums-Apostaten zu Kufar erklärt. Nicht etwa, weil Massenmord ihren fundamentalen Glaubensprinzipien widersprochen hätte, sondern weil jene die Hamas gut fanden, die Gesetze erließ – was bei entsprechend radikaler Interpretation nur Allah darf.
Man sieht hier recht gut, dass beim Takfir-Spiel die von Godwin's Law hinlänglich bekannten Effekte ebenfalls auftreten: Wer dem Nazi- bzw. Takfir-Vorwurf widerspricht, gerät selbst in Gefahr, damit bedacht zu werden. Und wie bei Diskussionen mit Nazivorwurf kann auch der Takfir-Vorwurf als Takfir-ähnliche Waffe eingesetzt werden: Von Ayatollah Khomeini etwa wird in Foren gern behauptet, dass er die ersten drei Kalifen zu Kufar erklärt habe.