Goldfische haben bereits eine längere Aufmerksamkeitsspanne als Menschen
Eine Microsoft-Studie zeigt, dass mit dem "digitalen Lebensstil" die Aufmerksamkeit beeinträchtigt wird, aber will für die Werbung Optimistisches bieten
Das Gehirn verändert sich, um sich der Umwelt anzupassen. Das ist mittlerweile banal. Es verändert sich natürlich, wenn Techniken oder Medien häufig benutzt werden. Ihre Bedienung erfordert neue kognitive Leistungen und zur Interaktion auch neue motorische Geschicklichkeiten, wie sich etwa die Augen über Bildschirme bewegen oder die Finger eine Tastatur oder einen Touchscreen benutzen. Eine Studie von Microsoft hat nun versucht zu untersuchen, wie sich die Aufmerksamkeit, die knappe und daher umkämpfte Ressource der Informationsgesellschaft, in Anpassung an neue Medien mit ihren Informationsdarstellungen und Interaktionen verändert. Schlecht machen will man natürlich nichts am digitalen Wandel, es würden sich halt neue "kognitive Leistungen" für den "digitalen Lebensstil" herausbilden, heißt es im Bericht. Klar ist jedenfalls, dass es hier zwischen Nutzer und Anbieter zu einem Wettrüsten kommt, das eine ungeheure Dynamik entfalten kann.
Microsoft macht klar, dass je nach Beschäftigung unterschiedliche Aufmerksamkeitsstile erforderlich sind. Man ist aber vornehmlich an der des Informations- oder Bildschirmkonsumenten interessiert. Man sollte eigentlich meinen, dass für den Softwarekonzern durchaus auch wichtig sein sollte, wie sich Betriebssysteme und Programme für unterschiedliche Berufsgruppen (Banker, Management, Buchhalter, Journalisten, Sekretäre, Ärzte etc.) und ihre Mediennutzung optimieren lassen könnten. Aber man kapriziert sich offenbar auf den Konsumenten von Content und damit auch auf Werbestrategien, diese einzufangen. Man lebe in einer Welt der permanenten Ablenkungen: "My phone... My kids... My tablet... My friends... There's always something competing for my attention these days! "
Die Aufbereitung der Studie wird unterschiedlich gehandhabt. Für die aufmerksamkeitstechnisch wenig Belastbaren gibt es eine Version, die sehr auf der Oberfläche bleibt, es überwiegen viele Bilder und Grafiken, es gibt wenig Text und vor allem kaum Wissenschaft. Die wissenschaftlichere Version gibt einen genaueren Einblick in den Ansatz und die Ergebnisse. Müssten jetzt konsequenterweise also für die Leser mit unterschiedlichen Aufmerksamkeitsstärken oder -defiziten nicht nur unterschiedliche Werbeformen, sondern auch unterschiedliche Texte, Filme, Spiele etc. hergestellt werden? Treten wir in eine Zwei- oder Mehrklassengesellschaft im Hinblick auf die Aufmerksamkeitskapazitäten ein?
Unterschieden werden drei Arten der Aufmerksamkeit. Meist wird Aufmerksamkeit als Konzentration verstanden, also Fähigkeit, an einer Sache zu bleiben und sich nicht ablenken zu lassen. Die längere Fokussierung ist aber tatsächlich nur ein Modus. Eine andere Variante ist, trotz ablenkender Reize die Aufmerksamkeit nicht abschweifen zu lassen, was als selektive Aufmerksamkeit bezeichnet wird. Und eine dritte Form der Aufmerksamkeit ist das Multitasking, also schnell und höchst konzentriert zwischen verschiedenen Aufgaben hin- und herschalten zu können. In der Studie wird dies "alternierende Aufmerksamkeit" genannt.
Unabhängig von der Ausrichtung der Studie sind die Ergebnisse interessant. Für die Studie wurden 2000 kanadische Menschen befragt und getestet - und um sie bei der Stange zu halten, geschah dies gamifiziert. Bei weiteren 112 Kanadiern wurde die Aufmerksamkeitsspanne bei verschiedenen Tätigkeiten mit unterschiedlichen Medien mit dem EEG erfasst und gefilmt.
Die Hypothese ist, dass die selektive und die alternierende Aufmerksamkeit für den digitalen Lebensstil am wichtigsten seien, mit ihnen ließe sich "das meiste" aus digitalen Medien herausholen. Ob sich damit das Fundament des digitalen Lebensstils, die Entwicklung von neuen digitalen technischen Systemen und das Schreiben von komplexer Software bewältigen lässt, bleibt freilich offen. Auf jeden Fall ist man der Meinung, dass Werbung für jeden Aufmerksamkeitsmodus anders gestaltet werden müsse, aber räumt auch ein, dass die Menschen zunehmend Schwierigkeiten hätten sich zu konzentrieren, was sich auf Leistungen in Schule oder Beruf auswirken würde. So sagen 44 Prozent, sie hätten Schwierigkeiten, sich auf Aufgaben zu kontrieren, bei den Jungen sind es Zweidrittel. Genauso viele sagen, sie würden durch unverbundene Gedanken oder Tagträumereien abgelenkt werden.
Die Benutzung digitaler Medien nimmt jedenfalls weiter zu. Durchschnittlich nutzen Erwachsene der Studie zufolge täglich mehr als 11 Stunden Medien; 2010 seien es noch 8:48 Stunden gewesen. Bei den 16-24-Jährigen seien es bereits 14 Stunden, da wäre nicht mehr viel übrig vom Tag, weil ja auch noch geschlafen werden muss. Festgestellt wird ein evidentes Suchtverhalten vor allem bei den jüngeren Menschen. So sagen 77 Prozent der 18-24-Jährigen, sie würden zuerst zum Smartphone greifen, wenn ihre Aufmerksamkeit gerade von nichts gefesselt sei. Bei den Über-65-Jährigen sagen dies nur 10 Prozent. 52 Prozent der jungen Kanadier schauen spätestens alle 30 Minuten auf ihrem Smartphone nach, 73 Prozent auch vor dem Schlafengehen. 79 Prozent nutzen beim Fernsehen weitere Medien, Live-Fernsehen wird immer weniger gesehen. Die Sucht entspricht allerdings bei mehr als der Hälfte auch dem Eindruck, dass Technik das Leben schlechter machen kann und dass es wichtig sei, sie auch mal auszuschalten, was aber kaum jemand macht.
76 Prozent der jungen Kanadier geben an, sie könnten nur durch Multitasking ihrer Arbeit nachgehen. Die Fähigkeit des Multitasking soll sich mitsamt der Informationsverarbeitung und des "Abspeicherns" im Gedächtnis verbessert haben, wenn es sich um interaktive Inhalte handelt, während die Aufmerksamkeitsspanne weiter geschrumpft ist, also das Fenster immer kleiner wird. So sei ein "digitaler Lebensstil" zwar mit einer sinkenden Aufmerksamkeitsspanne verbunden, aber dafür würde man schneller erkennen, was man will oder nicht will und brauche weniger Zeit zur Informationsverarbeitung und Erinnerung. Angeblich sei die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne im Jahr 2000 noch bei 12 Sekunden gewesen, jetzt kann sie gerade noch einmal 8 Sekunden aufrechterhalten werden, bevor ein Wechsel eintreten muss.
So würden Kanadier, die einen digitalen Lebensstil pflegen, zunehmend unfähig, sich vor allem in nichtdigitalen bzw. nicht-interaktiven "Umgebungen" aufzuhalten, in denen eine längere fokussierte Aufmerksamkeit erforderlich ist, auch wenn die Fähigkeit konstant geblieben sei, die Aufmerksamkeit auf das "Wichtige" zu richten. Gleichwohl sei die Aufmerksamkeitsspanne geringer als die von Goldfischen, die immerhin neun Sekunden durchhalten. "Kanadier", so der Bericht, "verlieren ihr Interesse schnell."
Bei Microsoft sucht man das Beste aus dem Schrumpfen Aufmerksamkeitsspanne herauszuholen: "Wenn man nicht mehr eingeschaltet sein muss, warum sollte man nicht zum nächsten und spannenden Ding für einen weiteren Dopaminstoß übergehen?" Auch die Benutzung mehrerer Screens, beispielsweise ein Tablet beim Fernsehen, müsse die Werbetreibenden nicht stören. Der zweite Bildschirm würde zum Ausfüllen der Augenblicke benutzt werden, in denen die Menschen sonst völlig ausgestiegen wären: "Sie sind allgemein stärker beteiligt und bereits auf immersive Erfahrungen eingestimmt." Aber Multiscreener seien weniger gut im Ausfiltern von Ablenkungen und zunehmend hungrig auf Neues. Das sei sowieso gut für Werbung, die leichter die Aufmerksamkeit einfangen könne, es sei nur schwieriger sie zu halten. Je höher der Medienkonsum ist, je stärker Soziale Netzwerke oder mehrere Bildschirme benutzt werden und je früher man sich an Techniken angepasst hat, desto mehr Schwierigkeiten gibt es, die Aufmerksamkeit auf eine einzige Aufgabe zu richten.
Eine der Hauptempfehlungen ist, die Werbung von allen unnötigen Informationen zu säubern: "Was Konsumenten im ersten Blick sehen, entscheidet darüber, was sie als nächstes tun werden." Man muss die Menschen im Wettrüsten um das Einfangen von Aufmerksamkeit und der Entwicklung von Strategien der Selektion also durch die Eliminierung aller Ablenkungen durch "Klarheit" und Außergewöhnlichkeit in die Falle locken: "Wenn sie durch den Input überwältigt werden oder ihnen die Motivation fehlt, ihn zu verarbeiten, beendet ihr Gehirn dessen Aufnahme", so die Autoren. Allerdings beschleunigt diese schon lange praktizierte Strategie gerade die Ablenkung und die immer kürzeren Aufmerksamkeitsspannen, während die Informationen immer einfacher, zugespitzter und damit ansprechender, aber auch schneller verdaubar werden müssen. So aufmerksamkeitsökonomisch und komplexitätsreduzierend muss dann auch zunehmend Politik gestaltet werden.