Gorbatschow: mit 90 weiser als mit 54?

Michail Gorbatschow. Foto: SpreeTom. Lizenz: CC BY-SA 3.0

Der ehemalige sowjetische Staatschef warnt heute vor eine Kultur, die Argumente durch Tabus ersetzt

Am 2. März 2021 wird der ehemalige sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow 90 Jahre alt. Nach eigenen - wohl etwas augenzwinkernden - Angaben, will er das nicht groß feiern: Das stehe erst an, wenn er 2031 Hundert Jahre alt wird.

Helmut Kohl 1986: bloß "ein moderner kommunistischer Führer, der sich auf Public Relations versteht"

Das Land in dem der Sohn eines russischen Bauern und einer ukrainischen Bäuerin Mitte der 1980er Jahre nach Jus- und Agrarbetriebswirtschaftsstudien und einer bis dahin eher unauffälligen Funktionärskarriere Mitte der 1980er Jahre Staatschef wurde, galt damals als erstarrt. So erstarrt, dass sich in westlichen Leitmedien kaum jemand vorstellen konnte, dass es sich ohne einen Dritten Weltkrieg ändert.

Abgesehen von Margaret Thatcher, die bereits im Dezember 1984 meinte, mit ihm könne man "Geschäfte machen" begegnete der Westen Gorbatschow zu dieser Zeit überwiegend mit Skepsis: Helmut Kohl etwa sagte dem damaligen US-amerikanischen Leitmedium Newsweek im Oktober 1986, Gorbatschow sei bloß "ein moderner kommunistischer Führer, der sich auf Public Relations versteht". Und er ergänzte: "Goebbels, einer von jenen, die für die Verbrechen der Hitler-Ära verantwortlich waren, war auch ein Experte in Public Relations."

Tatsächlich machte Gorbatschow aber nicht nur PR, sondern bereitete unter anderem den Abzug der russischen Truppen aus Afghanistan vor, das sich mehr und mehr als "russisches Vietnam" offenbarte. Gleichzeitig führte er seine Abrüstungsgespräche mit Ronald Reagan nicht nur als Theater, sondern ließ sich auf die Verschrottung von SS-23-Raketen und eine Kontrolle durch US-Inspektoren ein. Außerdem ließ er den Staaten des Warschauer Pakts 1989 faktisch die Wahl, sich aus der militärischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu verabschieden.

Glasnost, Perestroika, Anti-Alkohol-Kreuzzug

Innenpolitisch lockerte Gorbatschow derweilen unter dem Schlagwort "Glasnost" Geheimhaltung und Zensur, führte einen Kreuzzug gegen den Alkoholkonsum, und versuchte mit einem "Perestroika"-Umbau die Zufriedenheit der Bevölkerung mit der Staatsführung zu erhöhen. Letzteres ging zumindest im Kaukasus und im Baltikum schief.

Nach der Entwicklung der Unabhängigkeitsbestrebungen dort versuchte ein "Staatskomitee für den Ausnahmezustand" Gorbatschow zu entmachten, was jedoch nur dazu führte, dass Boris Jelzin, der Präsidenten der Russischen SFSR, die Macht an sich riss. Danach erklärte die Ukraine ihre Unabhängigkeit - und die verbliebenen Sowjetrepubliken folgten ihr. In der nun nicht mehr sowjetischen, sondern russischen Politik, spielte Gorbatschow keine große Rolle mehr. Er meldete sich zwar immer wieder zu Wort, wurde aber selten gehört - sowohl in seiner Heimat als auch im Westen, wo sich seine Tochter das Hubertusschlössl am Tegernsee kaufte, in dem er häufig zu Gast war.

Dass er selten gehört wurde, galt auch für sein Kritik am Umgang des Westens und seiner Leitmedien mit Russland - vor allem nach der Ukrainekrise 2014 (vgl. War die deutsche Wiedervereinigung eine Annexion?). Den Vorwurf einer einseitigen Parteinahme wies er dabei weit von sich. In einem Interview mit der Bild-Zeitung meinte er sogar:

Niemand macht sich mehr Sorgen um die Ukraine als wir Russen. Ich denke bei dieser Frage an meine Mutter. Sie war Ukrainerin. Und die zweite Frau in meinem Leben, die ich ebenfalls verloren habe, [meine Ehefrau] Raissa, war auch Ukrainerin. (Michail Gorbatschow)

Eine der wenigen Westmedienvertreter, die sich mit seinen Einwänden ernsthaft auseinandersetzten, war Franz-Josef Strauß' ehemaliges Sprachrohr Wilfried Scharnagl, für dessen Streitschrift Am Abgrund der ehemalige Sowjetchef 2015 das Vorwort schrieb (vgl. Wilfried Scharnagl fordert Partnerschaft mit Russland "auf Augenhöhe"). Darin meinte Gorbatschow, er fühle sich vom Westen nicht bloß "enttäuscht", sondern sogar "betrogen". Und er wunderte sich, dass das bloße Bemühen, Russland verstehen zu wollen, in deutschen Massenmedien zu einer Negativzuschreibung wurde.

In dieser Tabuisierung liegt seiner Ansicht nach der Kern eines größeren Problems: dass es keine Analysen mehr gibt, sondern nur noch Etiketten. Eine Wahrheit, die sechs Jahre später in noch deutlich größerem Umfang zuzutreffen scheint als 2015 (vgl. Corona: Clangefühle statt Argumentoffenheit).