War die deutsche Wiedervereinigung eine Annexion?
Das russische Parlament prüft eine Neubewertung der Ereignisse von 1989 und 1990
Der staatlichen russischen Nachrichtenagentur TASS zufolge prüft der Außenpolitische Ausschuss der Ersten Parlamentskammer der Russischen Föderation seit gestern einen Resolutionsantrag des kommunistischen Abgeordneten Nikolai Iwanow, der vorsieht, die deutsche Wiedervereinigung aufgrund völkerrechtlicher Mängel nachträglich als Annexion der DDR durch die BRD einzustufen.
Hintergrund sind die Strafmaßnahmen gegen die 18 russischen Delegierten in der (nicht mit dem Europaparlament zu verwechselnden) Parlamentarischen Versammlung des Europarates, der auch der amtierende Duma-Präsident Sergej Narischkin angehört. Ihnen wurde im letzten Jahr das Stimmrecht entzogen, weil die EU-Länder und die Luxemburger Versammlungspräsidentin Anne Brasseur die Aufnahme der Krim in die Russische Föderation als völkerrechtswidrige Annexion einstuften.
Narischkin lieferte auch die Inspiration für Iwanows Antrag: In einer Erwiderungsrede auf den Entzug des Stimmrechts der 18 russischen Delegierten hatte er erklärt, wenn man der Logik derjenigen folgen würde, die die Aufnahme der Krim in die Russische Föderation als Annexion verdammen, dann könne man auch sagen, "dass die BRD Ostdeutschland annektiert hat". Russland, so Narischkin damals, folge dieser Logik jedoch nicht und werte keines der Ereignisse als Annexion.
Iwanow gab in der Begründung seines Antrages offen zu, dass die von ihm vorgeschlagene Resolution eine Retourkutsche für die andauernden Krim-Sanktionen der EU-Länder sein soll. Und er ergänzte, dass die deutsche Wiedervereinigung - anders als die Aufnahme der Krim in die Russische Föderation - ohne vorherige Volksabstimmung durchgeführt wurde.
Michail Gorbatschow, der während der deutschen Wiedervereinigung Staats- und Parteichef der Sowjetunion war, bezeichnete den gestern eingebrachten Resolutionsvorschlag als "Nonsens", weil man seiner Ansicht nach Ereignisse von vor 25 Jahren nicht aus heutiger Warte heraus neu beurteilen sollte. Zur fehlenden Volksabstimmung fügte er an, dass die Ost- und Westdeutschen damals durch die Straßen gezogen seien und "Wir sind ein Volk" skandiert hätten.
Allerdings hält auch Gorbatschow die Aufnahme der Krim in die Russische Föderation für rechtmäßig. Die zu zwei Dritteln von ethnischen Russen besiedelte Halbinsel gehörte bis 1954 zur Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR). Dann wurde sie in einem völkerrechtlich fragwürdigen Vorgang ohne Volksabstimmung der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (USSR) zugeschlagen. Die damalige Umgliederung hatte rein planwirtschaftliche Gründe und beruhte auf der Prämisse, dass die Sowjetunion auf ewig Bestand haben werde.
Nachdem der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch im Februar 2014 gestürzt wurde und nachdem in Kiew eine ukrainisch-nationalistische Regierung die Macht ergriff, erklärte das Parlament der Krim die Unabhängigkeit der Region und hielt am 16. März 2014 eine Volksabstimmung ab, bei der sich angeblich 96,77 Prozent der Teilnehmer für die Option "Wiedervereinigung mit Russland" und gegen einen "einen Status als Teil der Ukraine" entschieden. Anschließend bat die Regionalregierung um Aufnahme in die Russische Föderation, die diesen Wunsch am 18. März 2014 erfüllte.
Die deutsche Wiedervereinigung begann mit regelmäßigen Montagsdemonstrationen in Leipzig und anderen Städten, die zur zur Maueröffnung und zu einer Volkskammerwahl führten, bei der die mit dem Sofortvereinigungsversprechen angetretene CDU auf eine relative Mehrheit von 40,8 Prozent der Stimmen kam. Das Ergebnis wurde von der westdeutschen und der neuen ostdeutschen Regierung als implizite Zustimmung des Volkes zu einer deutschen Wiedervereinigung gewertet, die nach einer Genehmigung durch Michail Gorbatschow, George Bush senior, Margaret Thatcher und François Mitterrand am 3. Oktober 1990 vollzogen wurde.
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