Grässlich anzusehende und ungeheuer aggressive Gegner
Raven veröffentlichen mit "Singularity" einen hervorragenden Egoshooter
"Erstklassiger Egoshooter von Raven, aber nichts Neues, 65 Prozent" - so oder ähnlich lesen sich viele Rezensionen zum im letzten Herbst erschienenen Shooter Wolfenstein. Eine seltsame Logik. Als würde die "ADAC Motorwelt" schreiben "Tolle Limousine von Mercedes, aber schon wieder vier Räder, naja...". Da sich das Spielchen gerade jetzt, anlässlich der Veröffentlichung von Singularity, zu wiederholen beginnt, lohnt sich ein Blick in die Geschichte der Traditionsfirma aus Madison, Wisconsin, um zu überprüfen, ob Raven das Image als epigonales id-Anhängsel zu Recht trägt.
Die bereits seit zwei Jahrzehnten tätige Spieleschmiede war seit jeher eng mit den texanischen Egoshooter-Demiurgen von id Software verbandelt. Schon kurz nach dem Release von Wolfenstein 3D - und noch vor der Veröffentlichung der ersten Doom-Shareware - lizensierte die (ursprünglich aus Brian und Steve Raffel, drei Kumpels und einem Rechner in einem Kellerabteil bestehende) Firma die erste, von John Carmack für Wolf3D programmierte 3D-Engine, um mit der von Carmack für die Pläne der Raffels optimierten Technologie einen frühen, noch stark von der Rollenspielvergangenheit von Raven geprägten First-Person-Shooter namens Shadowcaster zu erschaffen.
Die von den Gebrüdern Raffel weiter modifizierte Engine diente wiederum id als Grundlage für die bald folgende erste Doom-Engine, die anschließend von Raven verwendet wurde, um ihren ersten Superhit Heretic zu produzieren, der 1994 erschien. Wieder wurde die bereits in ihrer Urform beeindruckende Engine von Raven auffrisiert; dieses Mal auf eine Weise, die das noch junge Genre entscheidend prägen sollten. So war Heretic der erste Egoshooter, dessen Spielfigur nach oben und unten blicken konnte - ein Feature, das letzten Endes die noch heute übliche Steuerung mit Tastatur und Maus inspirierte und fälschlicherweise meist dem erst zwei Jahre erschienenen Duke Nukem 3D zugerechnet wird (sogar wenn es Heretic nie gegeben hätte, würde das nicht stimmen, denn id-Abweichler und Duke-Schöpfer Tom Hall hatte diese Spielmöglichkeit bereits vorher bei Rise Of The Triad realisiert, welches allerdings erst im Jahr nach Heretic erschienen ist).
Auch Hexen, das Sequel zu Heretic, holte Features aus der Doom-Engine heraus, die man nicht einmal in id's eigener Weiterentwicklung Doom 2 finden konnte. Vor allem die Einführung des Level Hub Systems ermöglichte neue, ausgefeiltere Möglichkeiten, auch im Rahmen eines FPS eine Art von Storyline zu entwickeln, da der Spieler über die Hubs bereits gespielte Level wieder ansteuern konnte, während in allen Spielen vorher die Level chronologisch abliefen, so dass ein einmal per "Exit" verlassener Spielabschnitt ein für allemal abgehakt war. Besonders verdienstvoll war jedoch die bei Hexen eingeführte Möglichkeit, das seinerzeit übliche Midi-Soundtrack-Gedudel einfach durch eine Audio-CD zu ersetzen.
Nach einer auf Basis der Quake-Engine entwickelten Fortsetzung namens Hexen 2 kehrten Raven 1998 zum ursprünglichen Titel zurück; gleichzeitig unternahmen sie mit Heretic 2 das Wagnis, aus der Ego-Perspektive in die 3rd-Person-Ansicht zu wechseln. Damals oft missverstanden (und unsinnigerweise als Tomb-Raider-Klon verrufen), war Heretic 2 in Wirklichkeit seiner Zeit voraus und definierte vieles von dem, was man heute in Form von God Of War oder Dante's Inferno zu Recht abfeiert. Ein gerade im Rückblick erstaunliches Spiel, wie viele der anderen frühen Raven-Titel in seiner Innovativität weit unterschätzt.
Wie diese Beispiele aus der Frühphase des PC-Geballers zeigen, hat die Firma Raven also nicht nur sehr früh damit begonnen, Egoshooter zu kreieren - mit ihrer Arbeit haben sie das Genre auch entscheidend geprägt und vorangebracht. Das ist selbstverständlich in erster Linie dann am ehesten möglich, wenn man (wie die Raffels) bereits in einem frühen Stadium der Entwicklung eines Genres (und einer Technologie) massiv Einfluss nimmt. Denselben Leuten, denen man im Großen und Ganzen noch nicht einmal die Credits für bereits erbrachte Großleistungen gibt, abzuverlangen, einem ausgereiftem und prächtig entwickelten (oder je nach Sichtweise stagnierendem und festgefahrenem) Genre mit jedem Release neue Impulse zu geben und ihnen zudem jedes Übernehmen einer anderswo entwickelten frischen Idee zum bitteren Vorwurf zu machen, grenzt an Aberwitz. Wer so grundlegende Innovationen realisiert hat wie Raven, hat jedes Recht, sich von seinen eigenen Quasi-Epigonen, ob sie nun Bioshock oder Call Of Duty heißen mögen, inspirieren zu lassen.
Das gilt auch für Singularity. Der Liebhaber von gruseligen Egoshootern feiert hier ein wahres Fest. Auch wenn "nur" die Unreal-Engine zur Verwendung kam, sieht das Spiel, speziell auf dem PC, wirklich toll aus. Die Atmosphäre ist schlicht und einfach großartig, die Gegner sind grässlich anzusehen und ungeheuer aggressiv - und auch der Plot um wunderliche Experimente der stalinistischen Sowjetunion gehört zu den eher interessanten der letzten Jahre. Natürlich sind hier auch Einflüsse von Bioshock zu finden - das ergibt aber Sinn, weil besagtes Unterwasser-Abenteuer einen neuen, recht hohen Standard gesetzt hat, an dem sich noch einige ambitionierte Spielehersteller orientieren werden.
Interessanterweise bemerken viele Kollegen nicht einmal, wenn Raven noch heute innovativ zu Werke geht. Die in Singularity eingebaute Möglichkeit der Zeitmanipulation ist ein durchaus spezielles Merkmal des Spiels, wurde aber von Großteilen der Rezensenten nicht etwa begrüßt, sondern als "nicht weitgehend genug" kritisiert ...