Graphe Paranomon
Warum Brigitte Zypries und Wolfgang Schäuble im antiken Athen um ihre Karriere bangen müssten
Moderne Demokratien haben seit dem 18. Jahrhundert viel aus einer relativ kurzen Periode des antiken Athen übernommen, die vom Ende des 5. Jahrhunderts bis zum Jahr 322 vor Christus dauerte. Trotzdem gibt es aus dieser Zeit noch viel Interessantes zu entdecken – zum Beispiel die graphe paranomon, die den antiken Athenern eine gewisse Gewähr dafür bot, dass ihre politischen Entscheidungsträger nicht allzu forsch verfassungswidrige Beschlüsse fassten.
Die Lösung ist – wie so vieles im antiken Athen – gleichzeitig ausgeklügelt und verblüffend einfach: Durch eine graphe paranomon genannte Klagemöglichkeit konnte nicht nur ein verfassungswidriger Beschluss für ungültig erklärt, sondern auch diejenigen, die ihn eingebracht hatten, mit Strafe bedroht werden. Deren Maß war zwar nicht festgeschrieben, wurde jedoch der gleiche Initiator dreimal eines solchen Vergehens überführt, dann verlor er in jedem Fall seine politischen Rechte. Brigitte Zypries und einige andere deutsche Politiker müssten also im antiken Athen nicht nur aufgrund der dort ebenfalls möglichen Klage wegen "Täuschung des Volkes" um ihre Karriere bangen.
Nachdem eine Klage eingereicht war, entschied die Heliaia, das oberste athenische Gericht über die Verfassungswidrigkeit des Beschlusses und die Strafe gegen den Initiator. Der erste belegte Fall einer graphe paranomon stammt aus dem Jahre 415. Als 411/410 und 404/403 kurzzeitig oligarchische Regime die Macht erringen konnten, wurde die Regel suspendiert, nach deren Ende aber wieder eingeführt. Die Klage konnte sowohl gegen Beschlüsse angestrengt werden, die bereits verabschiedet waren, als auch gegen solche, die sich noch im Vorschlagsstadium befanden. Kündigte sie ein Athener Bürger unter Eid an, dann wurde der fragliche Beschluss bis zur Entscheidung darüber ausgesetzt.
Erfolgte die graphe paranomon mehr als ein Jahr nach dem Beschluss, dann konnte dieser zwar noch für ungültig erklärt, sein Initiator jedoch nicht mehr bestraft werden. Hatte ein Beschluss mehr als fünf Jahre Bestand, dann war keine graphe paranomon mehr gegen ihn möglich. Stimmte eine Volksversammlung, an der sich mehr als 6.000 Bürger beteiligten (etwa ein Zehntel der Gesamtheit), bereits im Vorfeld eines Beschlusses für eine Immunität des Initiators, dann konnte dieser auch dann nicht bestraft werden, wenn sich der Beschluss später als verfassungswidrig herausstellte. Regelmäßig angewendet wurde diese Immunitätsgewährung bei der Erhebung von Kriegssteuern.
Auch vor dem, was man in den USA "frivolous lawsuits" nennt, wussten sich die Athener zu schützen: Stimmten einem Ankläger nicht mindestens ein Fünftel aller Geschworenen zu, dann drohte ihm selbst eine Strafe. Ob die privaten Krankenversicherungen sich also getraut hätten, ihre Verfassungsbeschwerde gegen eine gesetzlich vorgeschriebene bessere Behandlung ihrer in finanzielle Not geratenen Kunden auch im alten Athen einzureichen, ist fraglich.