Gratisdienste und Opportunitätskosten
Willkommen in der neuen Abhängigkeitsökonomie.....
Erinnern wir uns: Als vor knapp acht Jahren der erste grafische WWW-Browser Mosaic das Licht der Welt erblickte, interessierte sich noch kein Konzern für das Internet. Dies änderte sich schlagartig als 1994 ein Werbebanner auf Hotwired geschaltet wurde. Mit damals traumhaften Klickraten von 10% war das Konzept vom werbefinanziertem Content geboren. Der kurze Sturm der Entrüstung, den die damalige Webgemeinde gegen die Kommerzialisierung des Internets aufbrachte verstummte schnell unter dem explosionsartigen Angebotszuwachs an Informationsseiten. Das Konzept schien auf den ersten Blick schlüssig. Was in Fernsehen und Print funktionierte, konnte im Netz der Zukunft nicht scheitern. Dieser primitive Urgedanke setzte einen Teufelskreis in Gang, der die New Economy bis zum Sommer 2000 mit Treibstoff versorgte.
Im Frühherbst 2000 malte jedoch Jason McCabe Calacanis, CEO des Silicon Alley Reporter ein realistischeres Bild der Verhältnisse: Auf einem Vortrag der Internet Commerce Expo (ICE) in Düsseldorf verkündete er dem erstaunten Publikum, dass die Werbung im Internet ein "absoluter, kompletter, durch nichts gemilderter Fehler" sei. Mittlerweile wären die Anwender darauf konditioniert worden, alle Inhalte im Internet kostenlos zu erhalten. Die erhofften Einnahmen aus Werbung blieben jedoch weit hinter den Prognosen der aufgeblasenen Businesspläne zurück. Das Problem sei nun, dass es keine Alternativen für werbefinanzierte Modelle gebe, die von den Konsumenten akzeptiert würden.
Das Ende unserer schönen New Economy?
Weit gefehlt, es gibt offensichtlich durchaus Alternativen. Findige Firmen und junge Unternehmen zeigen uns gerade, dass man mit etwas Phantasie und subtilen Druckmitteln jederzeit groß Kasse machen kann: Die Spielregeln konnte man vergangenen Freitag bei Parsimony, einem großen deutschen Provider für Gratisforen einsehen: Ohne Vorankündigung wurden am Mittag vor dem Wochenende alle kostenlosen Foren mit einem Schlag eingestellt. Angeblich, weil die Hostinggesellschaft überteuerte Rechnungen an den Betreiber gestellt hatte, die dieser nicht bezahlen wollte. Auf zehntausenden Webseiten in Deutschland fand sich nur noch der lapidare Hinweis, dass das jeweilige Forum eingestellt wurde und man noch nicht sagen könne, wann und ob es wieder eröffnen werde. An sich ein normaler Vorgang. Schließlich müssen zur Zeit immer mehr Internetfirmen ihre Services aus Geldmangel einstellen.
Das Perfide an der Sache war allerdings, dass man gegen eine geringe Gebühr (60,- DM für Privatpersonen, 140,- DM für kommerzielle Kunden) sein Forum in "sekundenschnelle" wieder freischalten konnte. Der Umstieg auf andere Alternativen war dagegen beschwerlich: Bestehende Forenpostings waren für einen Großteil der User aus undurchsichtigen Gründen plötzlich nicht mehr downloadbar. Das Einrichten einer Umleitung dauerte in vielen Fällen mindestens 24 Stunden. Auch die Preispolitik des Anbieters nahm seltsame Auswüchse an: So kosteten bezahlte Foren kurz vor dem Tag der Abschaltung noch knapp die Hälfte. Selbstverständlich konnte man auch nur für ein Jahr im voraus bezahlen, Monatsbeiträge wurden nicht angeboten.
In einer anschließenden Forendiskussion - die bis Samstag früh andauerte - hagelte es Kritik und Drohungen für die Betreiber, die hierbei eine nicht gerade offene Informationspolitik betrieben, sondern mit zweideutigen Aussagen um den heißen Brei redeten und gegenüber der Presse zu keinem Statement bereit waren. Mittlerweile findet sich hier eine Stellungnahme. Ob sich die Ereignisse wirklich so zugetragen haben, wie jetzt von den Betreibern dargestellt sei dahin gestellt, eines jedoch festgehalten: Ein mit Sicherheit nicht geringer Prozentsatz von Anwendern hat an diesem Wochenende sein Gratisforum in ein bezahltes Forum umgewandelt. Aus Abhängigkeit.....
Der Beginn der Abhängigkeitsökonomie?
Aus der Old Economy stammt der Begriff "Opportunitätskosten". Hierunter versteht man - einfach formuliert - den Preis der nächstbesten, entgangenen Alternative. Schon lange vor den goldenen Zeiten des e-commerce haben Betriebswirtschaftler hieraus eine Strategie zur optimalen Preisfindung abgeleitet. Der Preis für ein Gut muss gerade so hoch sein, dass es sich für den Konsumenten nicht lohnt die nächstbeste Alternative zu wählen. Unter Kosten sind in diesem Zusammenhang auch nichtmonetäre Aufwendungen zu verstehen. In diesem Fall also alle Mühen die es den durchschnittlichen Anwender "kostet", sein Forum ohne die Bezahlung der 60,- DM wieder zum Laufen zu bringen: Viele private Webpage-Betreiber sind nicht ohne weiteres in der Lage, ein eigenes Forum mit Pearl und PHP-Scripten einzurichten. Auf die Schnelle einen neuen Gratisanbieter zu finden ist auch mühsam. Außerdem sind die Besucher ja schon an die Bedienung des alten Forums gewöhnt. Besuchen sie vielleicht ab jetzt ein anderes Forum und kommen nie wieder, wenn das eigene Forum mehrere Tage "Down" ist? "Bevor ich mir jetzt die Mühe und den Stress aufbürde, zahle ich doch lieber die 60,- DM. Das ist es mir wert.". Eigentlich ein nicht nur allzu menschlicher, sondern auch logischer Schluss.
Zufall oder Strategie?
Was wollten die Forenbetreiber eigentlich mit den Gratisforen erreichen? Waren das ein Haufen idealistischer Weltverbesserer, die dem Netz einen ewig andauernden Gratisdienst zur Verfügung stellen wollten? Wohl kaum. Was haben die Anwender erwartet? Dass ein Gratisforum niemals etwas kosten wird? Den meisten Anwendern (inklusive mir selbst) muss man diese Blauäugigkeit vorwerfen. Die meisten Anwender dachten sich: "Ich nütze jetzt das Ding solange es kostenlos ist und sobald sich Gebühren ankündigen suche ich mir einen neuen kostenlosen Anbieter". Wie viele Anwender hätten wohl die 60,- DM gezahlt, wenn sie mehr Zeit gehabt hätten umzusteigen? Warum wurden die Foren genau Freitag Nachmittag vor dem Wochenende geschlossen? Weil dies die Opportunitätskosten extrem erhöht hat.
Ich denke, jeder Nutzer sollte sich darüber Gedanken machen, welche Opportunitätskosten ihm eventuell ins Haus stehen. Die Frage ist nicht mehr, ob der eigene Email-Account kostenlos ist. Vielmehr: Was wäre es Ihnen wert, wenn Ihre kostenlose Email-Adresse ohne Vorankündigung und ohne Möglichkeit der Weiterleitung gesperrt werden würde, diese wieder freizuschalten? Ab welcher Jahresgebühr würden Sie sich diesen Unannehmlichkeiten aussetzen? 10,- DM, 50,- DM oder 100,- DM?
Würde GMX mit seinen 750.000 Nutzern von jedem Mitglied nur 10,- DM im Jahr verlangen, so wären dies immerhin zusätzliche Mehreinnahmen von 7,5 Millionen Mark. Das sind wahrscheinlich Peanuts, verglichen mit dem Risikokapital hinter dem Unternehmen. Was wäre allerdings, wenn sich alle großen Email-Anbieter absprechen würden, und diesen Schritt gemeinsam wagen. Die Opportunitätskosten würden extrem ansteigen. Die meisten Anwender würden sicherlich auch das doppelte oder dreifache im Jahr zahlen, wenn die Alternativen ähnlich teuer ausfallen würden.
Das Kartellamt hatte nichts zu beanstanden, als alle Handy-Provider unisono zur CeBit erklärten, keine günstigen PrePaid-Telefone mehr anzubieten, weil diese nicht kostendeckend seien. Ich denke daher kaum, dass die Freemail-Anbieter ein Problem hätten, eine Preisabsprache zu vertuschen. Dass ein kostenloser Dienst nicht kostendeckend sein kann, leuchtet ja irgendwie ein.
Die Zukunft...
...sieht wahrscheinlich nicht so drastisch aus, wie hier geschildert. Dennoch ist unsere Abhängigkeit von Gratisdiensten real. Dies muss nicht nur die eigene Email-Adresse sein. Fast jede Information, die wir im Netz erhalten ohne dafür zu zahlen, macht uns abhängig. Offensichtliche Beispiele sind Angebote von Webportalen, um seine persönlichen Daten zu verwalten oder ein kostenloses Programm zur Pflege und Analyse des eigenen Aktiendepots. Prinzipiell gilt die für fast alles im Netz: Je mehr man kostenlose Angebote nützt, desto mehr wird man ein potentieller Kunde in der Abhängigkeitsökonomie.
Gratisdienste sind Heroin fürs Volk?
Auf jeden Fall ist dies nicht der erste Versuch einer Firma mit mehr oder weniger subtilen Druckmitteln aus den Fängen eines rein werbefinanzierten Konzepts zu gelangen: Als beispielsweise letztes Jahr bei GMX zahlreiche Mails diverser Gratis-Konten aufgrund eines Serverabsturzes verschwanden, wurde die Firma nicht müde darauf hinzuweisen, dass alle bezahlten Accounts unversehrt blieben. Derartige Zufälle werden uns in naher Zukunft sicherlich noch öfters Anlass zu Spekulationen geben.......