Grauen am Morgen
Der größte Schock kam am Tag nach dem Ende der blutigen israelischen Militäroperation im Gazastreifen
Eigentlich war die israelische Militäroperation in Beit Hanun im Gazastreifen, bei der mindestens 50 Menschen ums Leben kamen, am Dienstagmorgen nach knapp einer Woche zu Ende gegangen. Doch einen Tag später schlug eine Artilleriegranate in ein Wohnhaus ein, tötete 19 weitere Menschen, die meisten von ihnen Frauen und Kinder, und setzte die Ereignisse erst richtig in Gang: Die radikalislamische Hamas rief zum ersten Mal seit mehr als zwei Jahren wieder zu Anschlägen in Israel auf, in Ost-Jerusalem lieferten sich Jugendliche erbitterte Auseinandersetzungen mit der Polizei und über den israelischen Städten und Gemeinden in der Nachbarschaft des Gazastreifens gingen bis Donnerstagmittag 28 Kassam-Raketen nieder.
Die Reaktionen wurden auch dadurch nicht geändert, dass Israels Regierung sich umgehend entschuldigte, humanitäre Hilfe anbot und eine interne Untersuchung des Vorfalls einleitete. Doch obwohl der vorläufige Bericht, der am Donnerstag veröffentlicht wurde, von menschlichem oder technischem Versagen spricht, bleiben viele Fragen offen – und die Wichtigste davon ist, warum „Operation Herbstwolken“ überhaupt begonnen wurde. Zwar begründet Israels Regierung die Invasion mit einem in den vergangenen Wochen wieder heftiger gewordenen Raketenbeschuss von israelischen Ortschaften. Doch Beobachter zweifeln daran, dass dies wirklich der Fall ist: Es seien in den vergangenen Wochen gar nicht mehr Kassams, wie die palästinensischen Raketen-Eigenprodukte heißen, abgefeuert worden, sagen sie; wahrscheinlicher sei es, dass die Regierung von Premierminister Ehud Olmert versuche, Präsident Mahmud Abbas zu stärken.
Meine Heimatstadt Sderot und Beit Hanun trennen nur zehn Kilometer, aber wir sind entzweit durch Krieg, Terror und Schikanen. Wir brauchen eine „Straßenkarte zur Moral“.
Amir Peretz, Vorsitzender der Arbeiterpartei, im israelischen Wahlkampf 2006
Es ist Mittwochmorgen, ein paar Minuten nach dem Morgengebet. Im Nebenzimmer schreit ein Kind, will Wasser, das es nicht gibt, weil die Hähne schon seit Tagen nichts mehr hergeben. Die Tür geht auf, Abed, der Familienvater, schaut durch den Spalt. „Gut geschlafen?“, fragt er mit sarkastischem Unterton– die gesamte Nacht über waren in Beit Hanun im nördlichen Gazastreifen Detonationen zu hören gewesen: Granaten, die Artillerie-Einheiten der Armee von israelischem Boden aus abfeuerten, um palästinensische Kämpfer davon abzubringen, Raketen abzufeuern.
„Das ist die Welt in der wir leben“, sagt der Übersetzer, der weder die israelische noch die palästinensische Führung oder die bis an die Zähne bewaffneten Kämpfer, die die Straßen des Gazastreifens unsicher machen, von seiner Kritik ausspart: Irgendwann macht das Leben hier jeden mürbe. Es ist ungefähr an diesem Punkt, als ein lauter, splitternder Knall, gefolgt von mehreren Explosionen, die Zeit für einen Moment zum Stehen bringt.
Warum alles angefangen hat, kann niemand so genau sagen: Die Armeeoperation im Norden des Gazastreifens sei eine Reaktion auf den zunehmenden Raketenbeschuss israelischer Städte und Gemeinden in der Nachbarschaft des Gazastreifens, hatte Israels Regierung ihren Schritt begründet. Aber ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung von Sderot, eine nur wenige Kilometer von Beit Hanun entfernt gelegenen israelischen Ortschaft, hält entgegen, dass nicht mehr Kassams, wie die palästinensische Raketen-Hausmarke genannt wird, als sonst eingeschlagen sind. „Wir werden schon seit Monaten beschossen“, erläutert er, „in den vergangenen Wochen war es sogar eher ruhiger als sonst gewesen. Dass die Regierung jetzt eine andere Strategie einschlägt, wundert uns auch.“
Am Mittwoch vergangener Woche hatten Einheiten der israelischen Armee die Grenze überschritten. Anders als während der letzten Operationen im Juni und Juli machten sie dieses Mal nicht an der Stadtgrenze Halt, sondern begannen in Beit Hanun, das als Hochburg von Hamas und Islamischem Dschihad gilt, ein Haus nach dem anderen zu durchsuchen. Die Gegenwehr war erbittert: Kämpfer der militanten Gruppen hatten Sprengfallen aufgebaut, lieferten sich heftige Feuergefechte mit der Armee, in denen sie aber so gut wie immer den Kürzeren zogen: Als der Generalstab am Dienstag „Operation Herbstwolken“ für beendet erklärte, hatten mindestens 53 Palästinenser, darunter auch eine Reihe von Zivilisten, ihr Leben verloren. In der Stadt gab es kein Haus, kein Auto mehr, dass nicht zumindest einige Kratzer, oft auch mehr, abbekommen hatte.
Doch für die Menschen in Beit Hanun war der Krieg mit dem Abzug der Soldaten nicht zu Ende: Einen Tag später, als die Zeit wieder weiterläuft, bietet sich nur wenige Hundert Meter von Abeds Wohnung entfernt ein Bild des Grauens: Ein Häuserblock ist in sich zusammen gestürzt; aus den Trümmern schlagen Flammen. Schreie sind zu hören, bis sie aufhören. Männer versuchen verzweifelt zu helfen, während sich Krankenwagen langsam ihren Weg durch die Menge bahnen, damit die Sanitäter feststellen können, dass in den zerfetzten Leibern, die die unfreiwilligen Helfern aus den Überresten der Wohnhäuser ziehen, kein Leben mehr steckt.
Ungefähr zur gleichen Zeit greift Verteidigungsminister Amir Peretz in Tel Aviv zum Telefon, um Premierminister Ehud Olmert das Geschehene zu gestehen. Olmert, berichten Mitarbeiter, habe einen Wutanfall bekommen: In ein paar Tagen will er nach Washington DC reisen, um die Neuen in Senat und Kongress kennen zu lernen, seine Regierung ist angeschlagen, die Bevölkerung erwartet diplomatische Fortschritte mit den Palästinensern.
„Ich glaube nicht, dass es bei ,Operation Herbstwolken’ wirklich darum gegangen ist, den Raketenbeschuss zu stoppen“, sagt Ofer Misrachi, Sicherheitsexperte beim staatlichen israelischen Rundfunksender „Kol Israel“: „Das Militär hat vielmehr einen umfassenden Krieg gegen die Hamas und den Islamischen Dschihad geführt.“ Irgend jemand im Verteidigungsministerium oder im Büro des Premierministers habe wohl beschlossen, dass es an der Zeit war, die Extremistengruppen so weit wie möglich zu schwächen, um die Position von Präsident Mahmud Abbas zu stärken.
Eine Theorie, die in diesen Tagen bei Beobachtern auf beiden Seiten viele Freunde findet: „Es ist die wahrscheinlichste Erklärung, wenn man das Ganze unter Berücksichtigung der Ereignisse in Palästina in den vergangenen Wochen betrachtet“, sagt der palästinensische Journalist Anwar Hatib: „Die Lage hat sich in den vergangenen Monaten so stark zugespitzt, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis Israel ernst machen würde.“
So verliefen die Verhandlungen zwischen der Hamas, deren Wahllisten „Wechsel und Reform“ bei den Parlamentswahlen im Januar die absolute Mehrheit errungen hatte, und der Fatah von Präsident Abbas über die Bildung einer Einheitsregierung bislang erfolglos. Obwohl es immer wieder so ausgesehen hatte, als stünde eine Einigung kurz bevor, scheiterte das Vorhaben bislang stets in letzter Minute: „Ich glaube mittlerweile nicht mehr daran, dass die Hamas wirklich ein Interesse daran hat, eine Einheitsregierung zu bilden“, sagt Hatib: „Sie ist die Seite, die dabei verlieren würde, weil sie Kompromisse schließen müsste, die ihr dann im Umkehrschluss Unterstützung kosten könnten.“
Zudem arbeitete die Hamas in den vergangenen Monaten im Hintergrund daran, ihre Machtposition so weit wie möglich auszubauen. Sie begann damit, im Gazastreifen und einer zunehmenden Zahl von Städten im Westjordanland eigene Polizeitruppen aufzubauen, deren Mitglieder sich überwiegend aus Angehörigen der Essedin al Kassam-Brigaden, der bewaffnete Flügel der Organisation, rekrutieren – eine direkte Herausforderung an die Sicherheitsorgane der Autonomiebehörde, die auch nach dem Wahlsieg der Hamas weiterhin von der Fatah dominiert werden.
Das Ganze hat mittlerweile staatsstreichartige Züge angenommen. Alleine kann dem Abbas kaum etwas entgegen setzen: Die Hamas-Leute sind gut ausgerüstet und voller religiöser Überzeugung; die regulären Polizisten hingegen haben nicht genug Waffen und sind oft seit Monaten nicht mehr bezahlt worden. Außerdem würde der Präsident wohl kaum einen offenen Bürgerkrieg riskieren.
Anwar Hatib
Doch aus israelischer Sicht sei diese Entwicklung inakzeptabel, sagt Radiojournalist Ofer Misrachi: „Dass die Hamas die Palästinensischen Gebiete vollständig dominieren könnte, ist für viele Israelis ein absoluter Albtraum. Kaum jemand hat sich bislang mit dem Gedanken abgefunden, dass die große Zeit der PLO [eine Dachorganisation palästinensischer Fraktionen, der zwar die Fatah, aber nicht die Hamas angehört, d.A.] vorbei sein könnte, denn das würde bedeuten, dass Israel in der nahen Zukunft mit der Hamas sprechen müsste.“ Er ist sich sicher: „Operation Herbstwolken“ habe diese Entwicklung aufhalten sollen.
Aber mit dem Ereignis am Mittwochmorgen ist jedes Gespräch, ganz gleich mit wem, erst einmal hinfällig geworden: Schnell wurde klar, dass mindestens eine Granate in den Häuserblock in Beit Hanun einschlug, die von einer Artillerieeinheit außerhalb des Gazastreifens abgefeuert wurde. Unabhängige israelische Experten sprechen sogar von mindestens zwei Geschossen und zweifeln damit auch den vorläufigen Untersuchungsbericht des Militärs an, in dem von menschlichem oder technischem Versagen die Rede ist. „Das könnte bei einer Granate der Fall sein, aber nicht bei mehreren“, sagt Mickey Levy, der ehemalige Polizeichef von Jerusalem: „Eine Artilleriegranate allein hat einfach nicht eine solche Zerstörungskraft. Und außerdem: Wie kann es sein, dass ein solcher Fehler niemandem auffällt?“ Ein Mitarbeiter der Militärstaatsanwaltschaft wird deutlicher: „Es würde mich nicht wundern, wenn die Soldaten sich im Zielschießen geübt haben: Wer trifft am nächsten an die Stadtgrenze heran? Wir beobachten die Vorgänge sehr genau, und werden, falls sich diese Theorie erhärten sollte, Anklagen gegen die Schuldigen erheben.“ Er habe den Eindruck gewonnen, dass das Militär momentan ein Führungsproblem habe: „Vorfälle wie jene zwischen Luftwaffe und UNIFIL-Truppen im Süd-Libanon sind entweder von oben angeordnet oder werden schweigend hingenommen. Ich tippe auf Letzteres.“
Für die meisten Palästinenser werden die israelischen Versuche der Schadensbegrenzung nicht viel ändern: Die Hamas hat zum ersten Mal seit Jahren wieder zu Anschlägen in Israel aufgerufen und damit einen seit langem geltenden, einseitigen Waffenstillstand aufgegeben. In Ost-Jerusalem lieferten sich Jugendliche den gesamten Donnerstagmorgen über heftige Straßenschlachten mit der Polizei.
In Beit Hanun wurden derweil am Donnerstagnachmittag die Toten zu Grabe getragen. Tausende, vielleicht sogar Zehntausende säumten die Straßen, während sich ein schier nicht enden wollender Zug aus Totenbahren seinen Weg zum örtlichen Friedhof bahnte. Während Hunderte von Kämpfern Kugel um Kugel in die Luft feuerten, skandierte die Menge Parolen von Hamas, Islamischem Dschihad und Hisbollah, forderte mehr Raketen, den Tod Israels. Doch bei vielen Bewohnern dieser Stadt, in der „Operation Herbstwolken“ kein Haus, kein Auto unbeschädigt gelassen hat, war hinter der Wut vor allem Verzweiflung zu spüren:
Die Menschen hier haben nichts mehr: Keine Arbeit, kein Geld, keine Sicherheit, sie sind Spielbälle des Willens der Israelis. Die meisten hier hatten früher mit der Hamas oder dem Islamischem Dschihad nichts zu tun. Es gab sogar gute Beziehungen zu den Israelis. Aber jedes Mal, wenn die Israelis hier einmarschieren, gewinnen die Extremisten ein bisschen mehr an Unterstützung.
Der Übersetzer Abed