Grausamer Optimismus: Die Schattenseite von individuellen Lösungsansätzen
Seite 2: Richtige und falsche Fragen
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Der US-amerikanische Autor Thomas Pynchon mahnte bekanntlich:
Wem es gelingt, Dir falsche Fragen einzureden, dem braucht auch vor der Antwort nicht zu bangen.
Thomas Pynchon
Ähnlich verhält es sich von dem Zwillingspaar Eigenverantwortung und grausamen Optimismus. Selbstverständlich ist es richtig und wichtig auch an die Eigenverantwortung der Menschen zu appellieren und keinen Nanny-Staat einzurichten.
Geht man aber die oben genannten Probleme durch, wird schnell klar, welche Aspekte der grausame Optimismus verdeckt:
Das Klima retten?
Einzig angeblich eine Frage unserer eigenen Verantwortung.
Der Dokumentarfilmemacher Joel Bakan erinnert in seinem Buch "The New Cooperation" an ein absolut grundlegendes Faktum, das hierbei so geflissentlich übersehen wird:
Wir fühlen uns schuldig und schämen uns, als würden wir nie genug tun, und da unser natürlicher Instinkt darin besteht, die Schuld auf uns selbst zu schieben, werden wir von den wirklichen systemischen Wurzeln des Problems abgelenkt – der Tatsache, dass nur hundert Unternehmen mehr als zwei Drittel der weltweiten Emissionen verursacht haben.
Joel Bakan
Der gigantische Plastikmüllberg?
Einzig eine Frage der Eigenverantwortung des recycelnden Verbrauchers! Der Journalist Matt Wilkins antwortet hierauf scharf:
Das Einzige, was noch schlimmer ist, als belogen zu werden, ist, nicht zu wissen, dass man belogen wird. Es stimmt, dass die Plastikverschmutzung ein riesiges Problem von planetarischem Ausmaß ist. Und es stimmt, dass wir alle mehr tun könnten, um unseren Plastikfußabdruck zu verringern.
Die Lüge ist, dass die Schuld für das Plastikproblem bei den verschwenderischen Verbrauchern liegt und dass eine Änderung unserer individuellen Gewohnheiten das Problem lösen wird. Das Recycling von Plastik ist für die Rettung der Erde das, was das Einschlagen eines Nagels für das Aufhalten eines einstürzenden Wolkenkratzers ist. (…)
Das eigentliche Problem ist, dass Einwegplastik – allein die Idee, Plastikartikel wie Einkaufstüten zu produzieren, die wir im Durchschnitt 12 Minuten lang benutzen, die aber ein halbes Jahrtausend lang in der Umwelt verbleiben können – ein unglaublich rücksichtsloser Missbrauch der Technologie ist.
Einzelpersonen dazu zu ermuntern, mehr zu recyceln, wird niemals das Problem der massiven Produktion von Einwegplastik lösen, das von vornherein hätte vermieden werden sollen.
Matt Wilkins
Übrigens: Der Müll der privaten Haushalte macht in Europa 8,2 Prozent des Gesamtmülls aus. Und was insgesamt das Recycling anbetrifft, ist dieser Artikel Pflichtlektüre:
Das Problem der zunehmenden Wasserknappheit?
Einzig – angeblich – eine Frage des rücksichtsvollen und sparsamen privaten Verbrauchs! Der US-amerikanische Umweltaktivist Derrick Jensen wundert sich:
Wir hören so oft, dass der Welt das Wasser ausgeht. Menschen sterben aus Mangel an Wasser. Die Flüsse sind wegen Wassermangels ausgetrocknet. Aus diesem Grund müssen wir kürzer duschen.
Sehen Sie den Zusammenhang? Weil ich dusche, bin ich dafür verantwortlich, dass die Grundwasserspeicher leer sind? Ähm, nein. Mehr als 90 Prozent des vom Menschen verbrauchten Wassers wird von der Landwirtschaft und der Industrie genutzt.
Die verbleibenden 10 Prozent teilen sich die Gemeinden und die lebenden, atmenden Menschen. Kommunale Golfplätze verbrauchen zusammengenommen so viel Wasser wie die Menschen in den Kommunen. Die Menschen (sowohl Menschen als auch Fische) sterben nicht, weil der Welt das Wasser ausgeht. Sie sterben, weil ihnen das Wasser gestohlen wird.
Derrick Jensen
Der Erhalt unserer Aufmerksamkeit angesichts der digitalen Revolution?
Alles eine Frage der Willensstärke, also liegt es einmal mehr im Bereich unserer eigenen Verantwortung. Tristan Harris, Direktor des Center for Human Technology und vormals Design-Ethiker bei Google, erklärt in seiner Zeugenaussage:
Heute haben Technologieplattformen mehr Einfluss auf unser tägliches Denken und Handeln als die meisten Regierungen. (…) Und dieser Einfluss ist nicht neutral. Das Geschäftsmodell der Werbebranche macht ihren Gewinn davon abhängig, wie viel Aufmerksamkeit sie auf sich ziehen. (...)
Das fängt damit an, unsere Aufmerksamkeit zu gewinnen. Techniken wie "pull to refresh" (Deutsch in etwa: ziehen, um zu aktualisieren) wirken wie ein Spielautomat, der uns auch dann "spielen" lässt, wenn nichts zu sehen ist.
Der "infinite scroll" (Deutsch in etwa: unendlicher Bildlauf) nimmt den Nutzern die Hinweise zum Anhalten und die Pausen, so dass sie nicht merken, wann sie aufhören müssen. Sie können versuchen, sich zu beherrschen, aber auf der anderen Seite des Bildschirms arbeiten tausend Ingenieure gegen Sie.
Tristan Harris
Unser Wunsch glücklich zu sein?
Liegt selbstverständlich und glücklicherweise (sic!) in unseren eigenen Händen und unserer eigenen Verantwortung. Auch wenn die sogenannte Positive Psychologie viele wichtige Erkenntnisse entdeckt hat, kann sie ebenso leicht dem grausamen Optimismus Vorschub leisten.
Daher warnen die israelische Soziologin Eva Illouz und der spanische Psychologe Edgar Cabanas:
Am Ende bleibt uns also kaum eine Wahl: Die Wissenschaft vom Glück nötigt uns nicht nur, glücklich zu sein, sondern macht uns auch noch für unsere Unfähigkeit verantwortlich, ein erfolgreicheres und erfüllteres Leben zu führen, als wir es tun.
Eva Illouz und Edgar Cabanas
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