Grausamer Optimismus: Die Schattenseite von individuellen Lösungsansätzen

Kontraste der Eigenverantwortung in der modernen Gesellschaft

Eine visuelle Darstellung der Diskussion um Eigenverantwortung, gesellschaftliche Ungleichheiten und den Umgang mit Herausforderungen in einer kapitalistischen Welt.

(Bild: KI-generiert)

Die Verantwortungsfalle: Einzelperson oder System. Dabei sind individuelle Lösungen oft trügerisch. Was, wenn grausamer Optimismus mit ihnen einhergeht?

George Bernard Shaw, der große irische Theaterschriftsteller und Nobelpreisträger für Literatur, war bekannt für seine pointierten Positionen. Auch im Hinblick auf die viel diskutierte Eigenverantwortung hatte er eine klare Ansicht:

Man gibt immer den Verhältnissen die Schuld für das, was man ist. Ich glaube nicht an die Verhältnisse. Diejenigen, die in der Welt vorankommen, gehen hin und suchen sich die Verhältnisse, die sie wollen, und wenn sie sie nicht finden können, schaffen sie sie selbst.

George Bernhard Shaw

Shaws Lobgesang auf die Eigenverantwortung könnte fast aus der Feder des aktuellen Bundesfinanzministers Christian Lindner stammen. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung erklärte er im Jahr 2011:

Es geht um die Einstellung, nicht um die Stellung in der Gesellschaft. Wir wollen die Menschen zu einer unternehmerischen Mentalität ermutigen, zum Willen, die eigene Biografie in die Hand zu nehmen. Das kann der Facharbeiter genauso wie die Krankenschwester oder der Vorstandschef.

Christian Lindner

Um das eigene Leben in die Hand zu nehmen, macht es keinen Unterschied, ob man ein Facharbeiter oder ein Vorstandschef ist?

Das kann man, vorsichtig ausgedrückt, auch anders sehen.

Laura Glauser kommentiert in ihrem Buch "Das Projekt des unternehmerischen Selbst":

Lindner hebt jegliche Differenz zwischen den Menschen auf und setzt den Facharbeiter mit dem Vorstandschef gleich. Damit blendet er die ungleichen Macht- und Klassenverhältnisse in kapitalistischen Gesellschaften aus, womit er impliziert, dass alle die gleichen Voraussetzungen für den Erfolg hätten.

Gleichzeitig negiert er die divergierenden Interessen von gesellschaftlichen Gruppen innerhalb des Kapitalismus.

Laura Glauser

Ein Argument als Allheilmittel

In den Debatten des Neoliberalismus kommt der Eigenverantwortung eine absolute Schlüsselstellung dazu. Mit der Eigenverantwortung geht häufig, wie noch zu zeigen sein wird, eine Grundidee einher, die der Sachbuchautor Johann Hari in Anlehnung an Laurent Berlant "grausamer Optimismus" tauft:

Dabei geht es darum, dass man ein wirklich großes Problem mit tiefgreifenden Ursachen in unserer Kultur aufgreift (...) und den Menschen in optimistischer Sprache eine einfache individuelle Lösung anbietet.

Johann Hari

Das Besondere: Dem Einzelnen wird nicht nur die Fähigkeit zur Lösung des Problems zugebilligt, sondern dadurch auch – implizit und unausgesprochen – die Verantwortung zugeschoben. Diese Argumentationslinie des grausamen Optimismus ist allgegenwärtig.

Hier ein paar Beispiele:

  • Menschen, die unter hohem Stress leiden, finden in zahllosen Ratgebern Hinweise, welche Meditationsform die beste Lösung ihres Problems sei.
  • Menschen, die auf Arbeitsplatzsuche sind, finden in Tausenden von Ratgebern gutgemeinte Tipps. Ein Beispiel des Bestsellerautors Tom Peters: "Seien Sie besonders (…) oder Sie werden ausgesondert!"
  • Menschen, die endlich glücklich sein wollen, haben in einem fast unbegrenzten Markt die Qual der Wahl. Dabei erfreut sich Mindfulness besonderer Beliebtheit. Wie Jon Kabat-Zinn erklärt: "Happiness is an inside job" (Deutsch: Glück ist eine innere Angelegenheit).
  • Menschen, die unter dem Verlust ihrer Aufmerksamkeit leiden, können reihenweise Anleitungen zur Behebung ihres Problems kaufen. So rät Nir Eyal:

Ich wollte den Leuten zeigen, dass es gar nicht so schwer ist. Es ist gar nicht so anstrengend. Wenn man weiß, was man tun muss, ist es ziemlich einfach, mit Ablenkung umzugehen.

Nir Eyal

Grausamer Optimismus ist auch ein wiederkehrendes Motiv in der Politik, das es unbedingt zu kennen gilt. Angesichts der Klimakrise wird immer wieder die Bedeutung des verantwortungsvollen Handelns des Individuums betont:

  • Das Problem des maßlosen Plastikmülls ist durch Recycling zu lösen. Jeder recycelt brav und korrekt und das Problem ist gleichsam recycelt.
  • Das Problem der Wasserknappheit lässt sich ebenfalls durch das Tun jedes Einzelnen lösen: Es gilt der einfache Ratschlag: Wasser zu sparen.

Verantwortungsverschiebung

Grundsätzlich machen alle obigen Lösungsvorschlägen natürlich Sinn und sie helfen sicherlich mehr oder weniger, das jeweilige Problem anzugehen. Allerdings verschieben die Lösungsvorschläge jeweils ganz subtil der Frage der Verantwortung, wie Johann Hari betont:

Grausamer Optimismus wirkt zwar auf den ersten Blick freundlich und optimistisch, hat aber oft eine hässliche Nachwirkung. Er führt dazu, dass der Einzelne nicht dem System die Schuld gibt, sondern sich selbst, wenn die ungenügende Lösung seines Problems scheitert, was meistens der Fall sein wird. Er wird denken, dass er es vermasselt hat und einfach nicht gut genug war.

Johann Hari

Der japanische Philosoph Kohei Saito geht in der Einleitung seines beeindruckenden Buches "Systemsturz" noch einen Schritt weiter:

Was machen Sie eigentlich gegen die Erderwärmung? Benutzen Sie nun auch eine eigene Einkaufstasche, um den Verbrauch von Plastiktüten zu reduzieren? Und anstatt Getränke in PET-Flaschen zu kaufen, tragen Sie Ihre eigene Flasche mit sich herum? Sind Sie auf ein Elektroauto umgestiegen? Ich sage es Ihnen ganz offen: Diese guten Absichten alleine sind sinnlos. Im Gegenteil, sie könnten vielleicht sogar schädlich sein. Aber wieso?

Der Glaube, dass der Erfolg im Kampf gegen die Erderwärmung davon abhängt, wie viel jeder Einzelne von uns tut, hält uns davon ab, die für die heutige Zeit wirklich wichtigen und mutigen Taten zu vollbringen. Er fördert stattdessen ein Konsumverhalten, das wie ein Ablasshandel funktioniert, um das Gewissen zu entlasten und die Augen vor der Realität der Krise weiter verschließen zu können. Das Kapital heuchelt uns Sorge um die Umwelt vor, und wir fallen auf dieses Green washing auch noch herein.

Kohei Saito

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