Gregor Gysi: "Döpfner steckt Ostdeutsche in Schubladen seines Kleingeistes"

Seite 2: Konsequenzen für das Denken und Fühlen in West und Ost

Der Prozess des Machtwechsels geschah einzigartig, in äußerst strittigem Dialog und nicht mit rigorosen Konsequenzen für die alten Machthaber. Manchen erscheint das inkonsequent, aber aus meiner Sicht zeigt sich gerade darin eine demokratische Kraft und Reife, die zugleich dafür sorgte, dass der Alltag für die Menschen weiterlief. Diese Größe hatte die Bundesrepublik im Umgang mit den alten Machthabern der DDR nicht.

Springer-Chef Döpfner hat für die Ostdeutschen und all diese Vorgänge nur Verachtung übrig und steckt damit den ostdeutschen Teil der Bevölkerung unseres Landes in die Schubladen seines Kleingeistes. Letztlich drückt er allerdings dadurch zugespitzt das aus, was an Fehlern im Einheitsprozess gemacht wurde. Die Deutschen aus der DDR hatten nach dem 3. Oktober 1990 das Gefühl, zu Deutschen zweiter Klasse zu werden. Die Bundesregierung konnte damals nicht aufhören zu siegen. Die Regierenden strahlten nicht nur eine gewisse Arroganz aus, sondern waren vor allem nicht bereit, sich die DDR genau anzuschauen und sinnvoll positive Seiten aus ihr im vereinten Deutschland zu bewahren.

Ich erinnere an den deutlich höheren Grad der Gleichstellung der Geschlechter im Vergleich zur alten Bundesrepublik. Man darf auch an die Berufsausbildung mit Abitur, die Polikliniken und die Art und Weise der Sekundärrohstofferfassung erinnern. Hätte die Bundesregierung solche Seiten übernommen, wäre das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen gestärkt und nicht nach unten gedrückt worden.

Wir hätten uns gesagt: Wir hatten zwar eine Diktatur, aber sechs Gegebenheiten waren so gut, dass sie jetzt in ganz Deutschland gelten. Die Westdeutschen hätten erlebt, dass sich ihre Lebensqualität in diesen sechs Gebieten durch den Osten erhöht hätte. Das ist ihnen nicht gegönnt worden. All das hat Konsequenzen für das Denken und Fühlen in West und Ost bis heute.

Das Herabwürdigen muss aufhören

Die Lohnlücke zwischen Ost und West besteht nach wie vor. Das gilt auch für ungleiche Arbeitszeit, natürlich im Osten länger als im Westen. Für die gleiche Lebensleistung gibt es nach wie vor keine gleiche Rente. Erst ab Ende Juli dieses Jahres, 33 Jahre nach Herstellung der Einheit, sind die Rentenwerte nominell angeglichen, aber die Ungleichbehandlung in vielen Berufsgruppen, zum Beispiel bei Polizistinnen und Polizisten, Ingenieurinnen und Ingenieuren, mithelfenden Angehörigen privater Handwerkerinnen und Handwerker bleibt.

Bemerkenswert ist, dass es praktisch keine Änderung gibt seit über 30 Jahren. Der Lohnabstand zwischen West und Ost wird nicht wirklich kleiner. Das ist schlicht und einfach skandalös. Seit 1995, als in den westdeutschen Unternehmen die 35-Stunden-Woche erkämpft wurde, musste ein Metaller im Osten 4000 Stunden länger arbeiten – das sind zwei Arbeitsjahre.

Die Gewerkschaften taten zu wenig. Dass es so ist, liegt aber auch daran, dass sich die Bundesregierung nie für eine wirkliche Einheit energisch einsetzte. Jeder kleine Schritt musste ihr abgerungen werden. Angela Merkel, der Kanzlerin aus dem Osten, war der Osten leider auch nicht wichtig.

Es zeigt sich auch daran, dass nur eine von 33 Staatssekretärinnen und Staatssekretären in den Bundesministerien der Ampel-Koalition und nur vier von 111 Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleitern aus dem Osten kommen – dreieinhalb Prozent bei einem Bevölkerungsanteil von 15 Prozent. Von 73 Bundesbehörden, die es in Deutschland gibt, werden nur drei von Ostdeutschen geleitet. Das ist schon deshalb grundgesetzwidrig, weil dort nicht nur gleiche Lebensverhältnisse, sondern auch eine angemessene Beteiligung sämtlicher Bundesländer auf der Leitungsebene des Staates gefordert werden.

Dass bei Löhnen und Renten zwischen Ost und West endlich Augenhöhe hergestellt wird, ist auch eine Frage des Respekts und des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Den Ostdeutschen und dem Osten wurde seit 1990 nie das Gefühl von Gleichwertigkeit vermittelt.

Die reale und gefühlte Benachteiligung wurde auch auf die Generationen übertragen, für die die Wende ebenso wie der Mauerfall Ereignisse aus Geschichtsbüchern sind, die sie sich kaum vorstellen können. Dennoch erleben sie selbst und in ihren Familien, worauf sich das Gefühl, benachteiligte Menschen zu sein, gründet.

Dies verschwindet erst dann, wenn es keine konkreten Benachteiligungserfahrungen mehr gibt, deutlich mehr für Arbeitsplätze und Jugend im Osten getan wird und Menschen mit Haltungen wie Mathias Döpfner es strikt unterlassen, Menschen derart herabzuwürdigen, wie er es mit den Ostdeutschen tut.

Gregor Florian Gysi wurde am 16. Januar 1948 in Berlin geboren. Er ist ein deutscher Rechtsanwalt, Politiker der Partei Die Linke, Autor und Moderator. 2020 wurde er zum außenpolitischen Sprecher der Fraktion Die Linke als Abgeordneter im Bundestag ernannt.

Dieser Beitrag erscheint im Rahmen einer Kooperation zwischen der Telepolis und der Berliner Zeitung, wo der Text zuerst erschienen ist.