Großbritannien: Eine Ära geht zu Ende
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Der Brexit als solcher ist erledigt. Die tiefen Risse bleiben, politische Instabilität wächst
Anfang dieses Jahres trat nach jahrelangem Gezerre das "Handels- und Kooperationsabkommen" zwischen der EU und Großbritannien in Kraft. In Großbritannien wurde es in Rekordzeit ratifiziert - es ist unwahrscheinlich, dass die allermeisten Parlamentsabgeordneten den Gesetzestext überhaupt gelesen haben.
In der EU steht eine endgültige Ratifizierung durch das EU-Parlament noch aus. Ein Datum für die Abstimmung ist noch nicht festgelegt, was auch an verschiedenen diplomatischen Verwicklungen liegt, über die in diesem Artikel noch zu reden sein wird.
Doch zuvor ein paar Worte über den Tod von Prinz Philip, dem Gemahl von Großbritanniens Langzeitkönigin Elizabeth II. Das mag auf den ersten Blick verwirren, ist aber dennoch nötig. Denn das Ableben des Prinzen steht symbolisch für die wachsende politische Instabilität in Großbritannien, für die auch der Brexit ein wichtiges Symptom ist. Ganze Generationen sind mit Elizabeth II als britisches Staatsoberhaupt aufgewachsen.
Sie hat die Geschicke des britischen Staates seit Ende des zweiten Weltkrieges begleitet. Diese Ära wird in den kommenden Jahren unweigerlich zu Ende gehen. Wer immer aus dem Königshaus dann ihre Nachfolge antritt, wird einem Großbritannien vorstehen, dessen Tage für eine wachsende Schicht von Beobachter:innen zunehmend gezählt scheinen.
Genug von "royaler Trauer-Berichterstattung"
Mit der Bekanntgabe des Todes von Prinz Philip schalteten alle britischen Fernsehsender sofort auf eine Rund-um-die-Uhr Berichterstattung über das Leben und Vermächtnis des Prinzen um. Schüler:innen wurden aufgefordert, auf ihre Lieblingssendungen zu verzichten und stattdessen patriotische Trauer zu zeigen. Doch diese Aufrufe fielen auf unfruchtbaren Boden. So schalteten laut einem Bericht der Tageszeitung Guardian allein beim Fernsehsender BBC 2 zwei Drittel aller Zusehenden ab, als diese merkten, dass außer royaler Berichterstattung an diesem Abend kein Programm zu erwarten war.
Gleichzeitig schossen die Beschwerden über diese Zwangsbeglückung in noch nie gekannte Höhen. Der Staat verordnete Staatstrauer. Aber nur kleine Teile des Volkes trauerten mit. Viele besuchten trotz durchwachsenem Wetter lieber die Gastgärten der gerade wieder eröffneten Pubs. Auch das ist ein Symptom für die Dauerkrise des britischen Establishments, die mit dem Vollzug des Brexit alles andere als bewältigt ist.
Denn in den drei Monaten seit in Kraft treten des Handelsvertrages mit der EU verging in Großbritannien kaum eine Woche ohne Skandal.
In England ist die Polizei aufgrund einer Reihe sexistischer Vorfälle und gewalttätiger Übergriffe diskreditiert wie lange nicht mehr. Gegen sie hat sich eine Protestbewegung entwickelt deren Abflauen vorerst nicht zu erwarten ist. Gleichzeitig hat die Regierung im Unterhaus ein Gesetz eingebracht, welches der Polizei weitreichende Rechte für die Auflösung friedlicher Proteste und Kundgebungen geben soll.
Schlammschlacht in Schottland
In Schottland liefern sich die amtierende Regierungschefin Nicola Sturgeon und ihr Amtsvorgänger Alex Salmond mitten im Wahlkampf eine Schlammschlacht, in der es um Vorwürfe sexueller Übergriffe gegen Salmond und Amtsmissbrauchsvorwürfe gegen Sturgeon geht.
Dessen ungeachtet fordert Sturgeon unverdrossen die Durchführung eines neuen Unabhängigkeitsreferendums, sollte das Unabhängigkeitslager bei den Wahlen zum schottischen Regionalparlament im Mai die absolute Mehrheit erringen.
Derweil hat die britische Zentralregierung die nordwestenglische Großstadt Liverpool unter Zwangsverwaltung gestellt, weil die dort regierende Labour-Partei es mit der grassierenden Korruption zu bunt und zu offensichtlich getrieben hat.
Cameron im Sumpf
Doch auch die Regierung von Premierminister Boris Johnson kämpft mit Korruptionsvorwürfen. Rund um den ehemaligen Premierminister David Cameron braut sich ein Lobbyismus-Skandal zusammen. Cameron soll im Auftrag des kürzlich zusammengebrochenen Finanzkonzerns "Greensill Capital" versucht haben, bei der Regierung für das Unternehmen vorteilhafte Gesetzentwürfe zu erwirken. Entsprechende, unter anderem an Finanzminister Rishi Sunak gerichtete SMS-Nachrichten Camerons haben in den vergangenen Tagen das Licht der Öffentlichkeit erblickt.
All dies findet vor dem Hintergrund der Covid-19 Krise statt, die trotz des relativen Erfolgs der britischen Impfkampagne noch längst nicht vorüber ist. Da ist es vielleicht kein Wunder, dass es rund um das Thema Brexit relativ ruhig scheint. Schließlich hat Boris Johnson mit dem Abschluss des Handelsvertrags sein zentrales Wahlversprechen, den Brexit "zu erledigen", eingelöst. Aber hat er das wirklich? Ein kurzer Blick auf Nordirland zeigt, dass sich die Auswirkungen des neuen Handelsvertrages mit der EU gerade erst beginnen zu zeigen.
Der politische Preis in Nordirland
Der Handelsvertrag hat Teile der EU-Außengrenze von der Republik Irland in die Frachthäfen entlang der nordirischen Küste verschoben. Wer von Großbritannien nach Nordirland Lebensmittel oder lebende Tiere exportieren möchte, muss nun Dokumente ausfüllen und Kontrollen über sich ergehen lassen. Nordirland bleibt auch nach dem Brexit weitgehend in den europäischen Binnenmarkt integriert. Eine "harte" Grenze zwischen dem Norden und der irischen Republik im Süden wurde dadurch vermieden.
Doch der politische Preis dafür ist noch nicht absehbar, wie die Unruhen in verschiedenen protestantisch/loyalistisch geprägten Wohngebieten der vergangenen Tage zeigen. Schon im Februar wurden die Einfuhrkontrollen an nordirischen Häfen wie Larne oder Belfast aufgrund angeblicher Drohungen durch unionistische und loyalistische paramilitärische Gruppen zeitweise ausgesetzt.
Im März kündigte schließlich das "Loyalist Communities Council", eine legal operierende Vorfeldorganisation loyalistischer paramilitärischer Gruppen, das 1998 als Friedensvertrag für Nordirland beschlossene Karfreitagsabkommen auf. Die DUP, jene Partei der auch Nordirlands Regierungschefin Arlene Foster angehört, hat derweil eine Boykottkampagne gegen den Handelsvertrag gestartet.
Die britische Regierung sah sich gezwungen, die in dem Vertrag für Nordirland geregelten Ein- und Ausfuhrbestimmungen auszusetzen. Das verleitete wiederum die EU dazu, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Großbritannien anzukündigen. Aufgrund dieser Situation hat das EU-Parlament den Handelsvertrag auch noch nicht ratifiziert.
Dort fordert man von Großbritannien die Einhaltung der vertraglichen Bestimmungen. Allerdings kann sich auch die EU kaum mit moralischer Überlegenheit brüsten, da sie zwischenzeitlich die Ausfuhr von Covid-19 Impfstoffen nach Nordirland stoppen und somit Elemente genau jener "harten" Grenze auf der irischen Insel einführen wollte, welche sie in den Jahren der Brexit-Verhandlungen vorgeblich bekämpft hatte.
Kleine oder mittelständische Exporteure mit der Situation überfordert
Insgesamt halten es Wirtschaftsanalyst:innen noch für zu früh für eine seriöse Bilanz oder Perspektiven-Erstellung für die wirtschaftliche Entwicklung des Post-Brexit Großbritanniens. Zwar brach der Handel sowohl zwischen Nordirland und Großbritannien als auch zwischen der EU und Großbritannien im Januar massiv ein. Inzwischen haben sich die Zahlen jedoch wieder weitgehend erholt.
Dennoch zeigen sich gerade kleine oder mittelständische Exporteure mit der Situation überfordert, und denken teilweise über eine komplette Beendigung ihres grenzüberschreitenden Handels nach. Laut Angaben des britischen Kleinunternehmerverbands sollen immerhin 11 Prozent aller Verbandsmitglieder solche Überlegungen hegen.