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Großbritannien in der Stagflation

Bild: Pixabay

Folgen des Brexits und des Regierungschaos unter Truss – die Konservativen beerdigen ihre Rezepte und wollen sogar Steuern für Besserverdiener erhöhen.

Wenn die These stimmt, dass Großbritannien zeigt, wohin die Inflationsreise auch in der Eurozone geht [1], dann ist die Entwicklung auf der Insel ein neuer Paukenschlag auch für uns, die wir schon unter einer Inflationsrate von 10,6 Prozent leiden [2].

Noch bevor der neue britische Finanzminister Jeremy Hunt seinen Rettungsplan für die Wirtschaft vorlegen konnte, hatte das staatliche Office for National Statistics (ONS) mitgeteilt, dass die offizielle Inflation in Großbritannien nun weiter stark auf 11,1 Prozent gestiegen ist.

Das ist der größte Teuerungsschub seit 41 Jahren [3]. Damit ist die offizielle Inflation erneut um einen gesamten Prozentpunkt in die Höhe geklettert. Die Erhöhung fällt deutlich stärker aus, als vom Finanzinformationsdienst Reuters befragte Ökonomen erwartet hatten. Die hatten einen Anstieg auf 10,7 Prozent prognostiziert.

Auch Großbritannien hat somit eine Inflationsrate, die, wie in der Eurozone, nur eine Richtung kennt: nach oben. Dabei war es die Bank of England (BoE), die relativ frühzeitig, schon vor einem Jahr, als erster G7-Staat eine Zinswende eingeleitet hatte [4]. Trotz allem ist sie, wie im Euroraum, auch im Königreich weiter völlig außer Kontrolle.

Da hat es nichts mehr geholfen, dass die BoE zuletzt am Monatsanfang ebenfalls erstmals den Leitzins um aggressive 75 Basispunkte auf nun drei Prozent angehoben hat. Dieser Schritt kam viel zu spät, denn auch in Großbritannien sorgt wie im Euroraum der Zinsunterschied (Spread) für eine schwache Währung.

Da Energie auf dem Weltmarkt in US-Dollar gehandelt wird, führt das zu höheren Energiepreisen auch dann, wenn diese gar nicht steigen: So ist zum Beispiel der Ölpreis im Laufe des vergangenen Monats um fünf Prozent gefallen. Das wirkt sich wegen des schwachen Pfunds aber nicht inflationsdämpfend aus.

Perfekter Sturm

Für das Königreich braut sich, auch wegen der Brexit-Folgen und des Regierungschaos' derzeit ein perfekter Sturm zusammen. Telepolis hatte schon berichtet, dass Großbritannien vor einer Jahrhundertrezession steht [5]. Die Wirtschaftsleistung war im August unerwartet früh geschrumpft. Wir hatten vermutet, dass Großbritannien schon im dritten Quartal und damit früher als erwartet in die Rezession gerutscht ist.

Gewarnt wurde, dass die Wirtschaftsleistung sogar über acht Quartale in Folge sinken könnte. Das wäre dann die längste Rezession seit Beginn belastbarer Aufzeichnungen vor rund 100 Jahren.

Dass es für die Briten heftiger kommen dürfte, hat jetzt das Office of Budget Responsibility (OBR) bestätigt. Das OBR ist eine Art Rechnungshof, das Amt wurde zwar von der Regierung gegründet, ist aber unabhängig und analysiert die wirtschaftliche Lage im Land. Es hat nun handfeste Zahlen dazu vorgelegt, wie tief die Krise tatsächlich wohl gehen wird und diese Angaben haben viele schockiert.

Laut dem OBR befindet sich das Land bereits in einer Rezession, also hat man nun die gefährliche Stagflation auf der Insel.

Festgestellt wird auch, dass ohne Maßnahmen zur Dämpfung der Energiepreise die Inflation sogar noch 2,5 Prozentpunkte höher ausgefallen wäre, also schon fast 15 Prozent betragen hätte. Das OBR geht im sogenannten "Herbst-Statement" [6] allerdings nur von einer nur mäßig schrumpfenden Wirtschaft aus. Sie soll im kommenden Jahr mit 1,4 Prozent etwas stärker schrumpfen als im laufenden Jahr.

"Verringerung des Lebensstandards um insgesamt sieben Prozent"

Für 2024 wird wieder eine wachsende Wirtschaft vorhergesagt. Angesichts der stark "steigenden Preise" würden allerdings die Reallöhne ausgehöhlt. Prognostiziert wird in einer noch eher optimistischen Prognose eine "Verringerung des Lebensstandards um insgesamt sieben Prozent in den beiden Haushaltsjahren bis 2023-2024".

Das wäre ein Rekord, womit das "Wachstum der vorangegangenen acht Jahre zunichte gemacht wird".

Relativer Optimismus des OBR

Der relative Optimismus des OBR baut unter anderem darauf auf, dass man im Rechnungshof davon ausgeht, dass sich auch die Inflation wieder normalisieren wird. "Die Inflation geht im Laufe des nächsten Jahres stark zurück", schreiben die OBR-Experten.

Sie gehen davon aus, dass die Teuerungsrate Mitte des Jahrzehnts durch sinkende Energie- und Lebensmittelpreise sogar wieder unter null gedrückt werde, man also in eine Phase der Deflation komme, bevor sie 2027 wieder die Zielmarke von zwei Prozent erreiche, die sich auch die BoE setzt.

Der Optimismus speist sich auch daraus, dass auch die Arbeitslosigkeit nur moderat steigen soll. Die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen soll von derzeit 1,2 auf 1,7 Millionen im Jahr 2024 ansteigen.

Das war zwar auch eine düstere Kulisse, aber das OBR prognostiziert ein nicht ganz so düsteres Szenario wie zuvor die Notenbank, die das Land vor einer "sehr herausfordernden Lage" gesehen hatte [7].

Entweder im Rechnungshof gilt das Prinzip Hoffnung oder man will vor allem mit den Vorhersagen, dass die Inflation alsbald schnell wieder sinken wird, verhindern, dass die Beschäftigten in Tarifauseinandersetzungen hohe Lohnforderungen stellen, um den massiven Kaufkraftverlust auszugleichen.

Die britischen Statistiker haben schon eine deutlich erhöhte Streikbereitschaft festgestellt. Die Statistikbehörde ONS hat errechnet, dass allein im August und September mehr als 560.000 Arbeitstage durch Streiks verloren gegangen seien. Das ist der höchste Wert seit zehn Jahren.

Deutlich steigende Löhne könnten allerdings zu Zweitrundeneffekten führen, wenn die Unternehmen die gestiegenen Lohnkosten wieder auf die Preise abwälzen. Das könnte dazu führen, was von Ökonomen gerne als gefährliche "Lohn-Preis-Spirale" beschrieben wird.

Allerdings, haben Untersuchungen längst gezeigt, dass bei der in den 1970er-Jahren vom der Ölpreisschock getriebene Inflation steigende Löhne der Wirtschaft in der Stagflation nicht nachhaltig geschadet haben, sondern sie durch die gestiegene Kaufkraft sogar stabilisiert wurde [8].

Es hängt also davon ab, ob die Unternehmen versuchen, ihre Gewinnerwartungen kurzfristig aufrecht zu erhalten, oder ob sie sie für eine nachhaltigere Stabilisierung senken wollen. Würde sich die Inflation darüber verstetigen, dass sich gestiegene Lohnkosten schnell in höheren Preisen ausdrücken, dann ist mit einem nachhaltigen Zinsschock zu rechnen, vor dem sogar in den USA schon gewarnt wird [9].

Die Gefahr eines Zinsschocks

Denn es ist klar, dass die BoE angesichts der Rekordinflation die Leitzinsen weiter erhöhen wird. Darüber wird den Verbrauchern zusätzlich Geld aus der Tasche gezogen, weil unter anderem die Zinsen für Hypothekenkredite steigen.

Denn wie in Spanien gibt es auch in Großbritannien die Unart, dass die Hypothekenkredite oft kurzfristig zu variablen Zinsen ausgereicht werden. Etwa zwei Drittel aller Hypo-Kredite werden im Königreich variabel verzinst.

Die Gefahr eines Zinsschocks ist in Großbritannien also deutlich höher als in den USA, obwohl die US-Notenbank Fed den Leitzins schon auf eine Zinsspanne von 3,75 bis 4 Prozent erhöht hat. Das hat mit einer interessanten Entwicklung in den USA seit der Finanzkrise ab 2008 zu tun.

Die Struktur des US-Hypothekenmarktes ist mittlerweile stärker festverzinslich geprägt. Der Anteil von Krediten mit variablen Zinsen hat sich seither halbiert. In Volkswirtschaften wie in Großbritannien, mit einem höheren Anteil an variabel verzinsten Hypo-Krediten, hat das Zinsniveau deshalb einen größeren Einfluss auf die Wirtschaft.

Anders als im Königreich hat die Fed es mit ihrem aggressiven Zinskurs geschafft, die Inflationsrate inzwischen wieder deutlich zu senken [10]. Das ging, jedenfalls bisher nicht stark auf Kosten der Konjunktur. Die Wirtschaft in den USA ist zuletzt sogar wieder gewachsen.

Im dritten Quartal stieg die Wirtschaftsleistung nach einer ersten Schätzung wieder um 2,6 Prozent [11]. Technisch befanden sich die USA auch in der Rezession, da die Wirtschaft im ersten und zweiten Quartal gesunken war.

Doch kommen wir zurück nach Großbritannien. Dort vollziehen nach den neoliberalen Ausschweifungen der Kurzzeit-Regierungschefin Liz Truss ihre konservativen Torys eine steuerpolitische Kehrwende.

Nach Truss: Steuerpolitische Kehrwende

Doch kommen wir zurück nach Großbritannien. Dort vollziehen nach den neoliberalen Ausschweifungen der Kurzzeit-Regierungschefin Liz Truss ihre konservativen Torys eine steuerpolitische Kehrwende. Hatte Truss das Land fast mit ihren absurden Steuerplänen ins Chaos [12] gestürzt, die selbst an den Finanzmärkten zu einem massiven Aufschrei führten.

Statt wie üblich die Steuern zu senken, vor allem für Besserverdiener, wie Truss in die Fußstapfen des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump treten wollte, hat die Regierung unter Rishi Sunak nun genau das Gegenteil vor. Truss wollte den Spitzensteuersatz von 45 Prozent auf 40 Prozent senken.

Unter ihrer Regentschaft sollten Großverdiener mit Einkünften über 150.000 Pfund also deutlich weniger Steuern bezahlen. Nun, so kündigte Finanzminister Hunt bei der Vorstellung seines Rettungsplans für die Wirtschaft an, fällt der Spitzensteuersatz sogar schon bei einem Einkommen über 125.000 Pfund an.

Denn es geht für ihn um nicht weniger als um die Rettung der heimischen Wirtschaft. Da auch die Höhe des Steuerfreibetrags um zwei weitere Jahre bis 2028 eingefroren werden soll, rutschen deutlich mehr Menschen durch steigende Löhne in den Bereich des höchsten Steuersatzes.

Zu der hohen Inflation hatte Hunt erklärt: "Wir können kein langfristiges, nachhaltiges Wachstum mit hoher Inflation haben." Die Inflationsbekämpfung soll höchste Priorität eingeräumt werden. Mit seinem Rettungsplan will er insgesamt 55 Milliarden Euro einsparen, um die öffentlichen Finanzen zu konsolidieren. Dazu sind eben auch Steuererhöhungen nötig.

"Wir sind ehrlich in Bezug auf die Herausforderungen und fair in unseren Lösungen", erklärte Hunt im Parlament. Er will die Quadratur des Kreises versuchen und mit seinem Plan "Schulden abbauen, für Stabilität sorgen, die Inflation senken und gleichzeitig die Schwächsten schützen". Nach seinen Plänen sollen also in Großbritannien nun endlich die mehr Steuern bezahlen, die sie auch bezahlen können.

Übergewinnsteuer für Öl- und Gaskonzerne

Neben den höheren Einkommenssteuern kündigte der Finanzminister auch an, dass die Übergewinnsteuer für Öl- und Gaskonzerne von 25 Prozent auf 35 Prozent erhöht wird, die man in Deutschland noch immer vermisst. Diese Steuer wurde auch bis 2028 verlängert.

Eingeführt werden soll zudem eine neue Steuer in Höhe von 45 Prozent für Stromproduzenten. Auch sie soll nur "vorübergehend" eingeführt werden.

Wo genau gespart werden soll, ist bisher noch weitgehend unklar. Im maroden Gesundheitsdienst soll das jedenfalls nicht geschehen. Hier kündigte Hunt sogar höhere Ausgaben an, wie auch für die Schulen.

Zwar sollen die Einklang mit der hohen Inflation steigen, aber Geringverdiener sollen weitere Reallohnverluste hinnehmen. Der Mindestlohn soll nur um knapp 10 Prozent auf 10,42 Pfund pro Stunde steigen.


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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Grossbritannien-zeigt-wohin-die-Inflationsreise-geht-7124290.html
[2] https://ec.europa.eu/eurostat/documents/2995521/15265521/2-17112022-AP-DE.pdf/ccb17efd-a67e-4187-3c6e-813275c6b84a
[3] https://www.reuters.com/world/uk/uk-consumer-price-inflation-hits-111-october-ons-2022-11-16/
[4] https://www.heise.de/tp/features/Notenbanken-nehmen-Inflation-ernst-ausser-der-EZB-6307508.html
[5] https://www.heise.de/tp/features/Warnung-vor-Jahrhundertrezession-7331709.html
[6] https://obr.uk/overview-of-the-november-2022-economic-and-fiscal-outlook/
[7] https://www.bankofengland.co.uk/monetary-policy-summary-and-minutes/2022/november-2022
[8] https://www.heise.de/tp/features/Wieder-neuer-Inflationsrekord-im-Euroraum-7132078.html
[9] https://www.heise.de/tp/features/Inflationsbekaempfung-Kommt-ein-Zinsschock-7268080.html
[10] https://www.heise.de/tp/features/Inflationsbekaempfung-funktioniert-Sie-sinkt-in-den-USA-deutlich-7337961.html
[11] https://www.reuters.com/markets/us/us-economic-growth-rebounds-q3-trade-demand-is-slowing-2022-10-27/
[12] https://www.heise.de/tp/features/Eiserne-Lady-in-Trouble-Finanzmarkt-Turbulenzen-zwingen-Truss-in-den-Rueckwartsgang-7284247.html