Großbürger im Panikmodus: Sahra Wagenknecht auf den Spuren Mussolinis?

Seite 2: Wer den Faschisten als Revolutionär bezeichnet

Anschließend holt Lütjen zum großen Schlag aus: "Konvertiten wollen weiterhin aufs große Ganze gehen. Mussolini, vielleicht der bekannteste unter ihnen, bleibt ein Revolutionär, nur der Fluchtpunkt wandelt sich: Es ist nicht länger die Arbeiterklasse, sondern die Nation, die die Misere und das Elend der Gegenwart überwinden soll."

Vielleicht sollte sich hier der Professor für Partizipations- und Demokratieforschung einmal daran erinnern, dass sich Benito Mussolini zum Faschisten gewandelt hat und dadurch ausdrücklich zum Vorbild für Adolf Hitler wurde.

Auch war er als Faschist kein Revolutionär, es sei denn man hängt einem Revolutionsbegriff an, wie ihn etwa die NSDAP hatte, die fortwährend von einer "deutschen Revolution" redete. Vor allem aber war Mussolini ein Kriegstreiber.

Unzulässiger Vergleich mit einer Friedenspolitikerin

Das zentrale Motiv seiner Wandlung war die Absicht, Italien in den Zweiten Weltkrieg zu führen. So beteiligte sich dann Italien unter seiner Führung auch am deutschen Angriffskrieg gegen die Sowjetunion und versuchte ein eigenes Kolonialreich in Südosteuropa zu errichten.

In Afrika besetzten italienische Truppen das bis dahin unabhängige Äthiopien und erklärten es zur Kolonie des neuen "römischen Imperiums".

Es verbietet sich daher jeder Vergleich mit Sahra Wagenknecht! Sie war es vielmehr, die zusammen mit Alice Schwarzer die große Friedensdemonstration am 25. Februar 2023 vor dem Brandenburger Tor in Berlin mit mehr als 50.000 Teilnehmern organisierte.

Das von den beiden Frauen verfasste "Manifest für Frieden" wurde mittlerweile von fast einer Million Menschen unterschrieben. Wagenknecht hat darin klargestellt, dass sie an ihren friedenspolitischen Zielen und ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der Nato festhält.

Wer sind die Konvertiten?

Im Gegensatz zu ihrer ehemaligen Partei Die Linke, die sich weigerte zu der Demonstration aufzurufen und die die noch im Parteiprogramm verankerten friedenspolitischen Ziele längst aufgeweicht hat. Wer ist also der Renegat, wer der Konvertit, wer sind die Abtrünnigen? Ist es Wagenknecht oder sind es nicht vielmehr Teile der Linkspartei, welche die Ablehnung der Nato für nicht mehr zeitgemäß halten?

Doch nach Lütjen sollen jene, die von heute auf morgen genau das Gegenteil von dem gestern Verkündeten vertreten, nicht als Renegaten gelten, wenn ihnen am Ende nur genügend Anhänger folgen: "Politische Konvertiten schwimmen immer gegen den Strom der Geschichte, nicht mit ihm."

Ganz falsch sei es daher zum Beispiel, "wenn bisweilen die bekanntesten Protagonisten der bundesdeutschen Linken der 1960er- und 1970er-Jahre – Gerhard Schröder etwa oder Joschka Fischer – als Konvertiten bezeichnet werden, da sie als sozialdemokratischer Kanzler oder grüner Außenminister dann ab 1998 das Gegenteil von dem taten, was sie früher einmal versprochen hatten".

"Nur wer sich ändert, bleibt sich treu"

Schließlich hätten sich deren ganze Generation und das sie prägende Milieu mit ihnen verändert. "Durchaus folgerichtig sahen sie bei sich selbst daher keinen radikalen Bruch, sondern eine logische Fortentwicklung am Werk, getreu dem Motto 'Nur wer sich ändert, bleibt sich treu'", schreibt Lütjen.

Sahra Wagenknecht hat hingegen das Wagnis einer Parteigründung auf sich genommen, um sich und ihren politischen Positionen treu bleiben zu können. Sie lehnt es ab, dem aus ihrer Sicht opportunistischen Kurs der Parteiführung der Linkspartei zu folgen, die sich heute an die herrschende Meinung anzupassen droht, so wie es Gerhard Schröder und Josef Fischer für die SPD und für die Grünen Ende der 1990er-Jahre taten.

Der "bewahrend-brandstiftende Zweiklang"

Am 5. Dezember 2023 beschäftigte sich die FAZ erneut mit Wagenknecht und der neuen Partei. Zu Wort kamen diesmal zwei ausgewiesene Vertreter des deutschen Großkapitals: Knut Bergmann, Leiter des Berliner Büros des von den Arbeitgebern finanzierten Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) und Matthias Diermeier, Vorsitzender des Clusters Demokratie, Gesellschaft, Marktwirtschaft des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW).

In dem ebenfalls ganzseitigen Artikel setzen sich die Autoren unter der Überschrift "Wohlstand für alle?" zunächst mit der wirtschaftspolitischen Agenda der AfD auseinander. Da aber ihrer Meinung nach die neue Partei von Sahra Wagenknecht der rechten Partei sehr nahe steht, rechnen sie kurzerhand unter der Zwischenüberschrift "Das AfD-Potential einer Wagenknecht-Partei" gleich auch mit ihr ab.

Verdächtige Schlagworte: Rückkehr zur Vernunft

Nach ihnen "erinnerte Wagenknechts Diktion bei der Vorstellung des Bündnisses an die AfD: 'So wie es derzeit läuft, darf es nicht weitergehen. Denn sonst werden wir unser Land in zehn Jahren wahrscheinlich nicht wiedererkennen. Wir brauchen eine Rückkehr der Vernunft in die Politik, und das gilt vor allem auch für die Wirtschaftspolitik.'"

Eine Aussage, die weder ungewöhnlich noch anrüchig ist. So oder ähnlich kann man es bei vielen Oppositionspolitikern nahezu täglich lesen. Doch offensichtlich reicht eine solche Polemik aus dem Munde Wagenknechts, um sie in die Nähe der AfD rücken zu können.

Konstruierter Gleichklang mit der AfD

Bergmann und Diermeier sehen AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) im Gleichklang:

"Bei beiden Kräften dürfte weniger die ökonomische als eine kulturelle Dimension im Fokus stehen: die Furcht vor Überfremdung und das Gefühl, paternalistischen Instanzen ausgeliefert zu sein – was sich bei der AfD etwa in der Ablehnung des gendernden öffentlich-rechtlichen Rundfunks oder jedweder staatlichen Interventionen ausdrückt. (…)

Das Verbindende liegt im dialektisch anmutenden bewahrend-brandstiftenden Zweiklang." Da haben wir sie wieder: Die Begriffsschöpfung, die unbestimmt schwammig daherkommt, vor allem aber ein ungutes Gefühl zum Ausdruck bringen soll: Hier ist es diesmal der "dialektisch anmutende bewahrend-brandstiftende Zweiklang".

Bloß keine Hoffnung auf Bollwerk gegen die AfD

Und damit es sich auch in den Köpfen der Leser festsetzt, wird von den Vertretern des Instituts der deutschen Wirtschaft das Diktum von Nachtwey ausdrücklich wiederholt:

"Wer auf gegenseitige Kannibalisierung beider Parteien hofft, sollte Oliver Nachtweys Warnung aus der FAZ bedenken: 'Wer sich von einer Liste Wagenknecht ein Bollwerk gegen die AfD erhofft, wird im schlechtesten Fall bei einem gestärkten rechten Block enden.'"

Haben die verschiedenen hier zitierten Autoren die neue Partei erst einmal in die rechte Ecke gestellt, kann sie bequem ausgegrenzt und isoliert werden. So machen es die Linksliberalen schon lange mit allen, die sie aus dem politischen Leben entfernen wollen.

Und genau dies ist auch das Anliegen einer so bedeutenden Zeitung wie der FAZ, der es in der Geschichte der Bundesrepublik stets darum ging, eine Mehrheit in den Parlamenten für die Fortführung einer prokapitalistischen, bürgerlichen Politik zu organisieren. Die neue Partei von Sahra Wagenknecht könnte dabei stören.

Andreas Wehr war Mitglied der SPD, in den 1980er-Jahren zeitweise Landesvorsitzender der Jungsozialisten, später Mitglied der Partei Die Linke und bis 2014 als wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Konföderale Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke des Europäischen Parlaments in Brüssel tätig. Mit Marianna Schauzu gründete er zudem das Marx-Engels-Zentrums Berlin.