Joe Biden und die USA: Der Präsident ist nackt

Anderson sollte man auch wieder in den USA lesen. Bild: Vilhelm Pedersen

Joe Biden möchte im Weißen Haus bleiben. Doch es kommt nicht mehr auf die Wahlen an. Sein Schicksal wird sich nicht im November entscheiden, sondern bereits im August.

Die jüngste Debatte zwischen dem amtierenden US-Präsidenten Joe Biden und dem ehemaligen Präsidenten Donald Trump hat die oppositionellen Demokraten in Unruhe versetzt. So sehr, dass das Politduell in den CNN-Studios in Atlanta am 27. Juni 2024 den Anfang vom Ende der Karriere Joe Bidens bedeuten könnte.

Das entscheidende Momentum: Die großen Medien der USA bilden seit der ersten Debatte zur Präsidentschaftswahl eine fast geschlossene Phalanx gegen den 81-Jährigen.

Für Biden ist das schmerzhaft, denn als politischer Kämpfer, der gegen das gesamte Washingtoner Establishment, der von Delaware aus den Aufstieg erst zum Langzeitsenator und dann schließlich doch auch noch ins höchste Staatsamt geschafft hat, war sein Medienbild immer wichtig. Es bestätigte ihn.

Umso unverständlicher, dass die Demokraten ihn in diese Situation gebracht haben. Es ist ein Gemenge aus fehlender Alternative, dysfunktionaler Debattenkultur und festgefahrenen Machtstrukturen bei den Demokraten, die – wenn nicht noch ein Wunder geschieht – mit Donald Trump einen Polithasardeur an die Spitze einer zerfallenden Weltmacht bringen könnte.

Trump im weißen Haus, Ukraine-Krieg zu Ende?

Wenn, und diese Perspektive erscheint zunehmend realistisch, Trump Ende dieses Jahres ins Weiße Haus zurückkehrt und der Ukraine-Krieg zuungunsten Kiews ein jähes Ende findet, werden die Demokraten die historische Verantwortung dafür tragen.

Die Lage um Biden erinnert zunehmend "Des Kaisers neue Kleider" des Dänen Hans Christian Andersen. Alle sehen den persönlichen Missstand, aber keiner traut es sich, Biden zu sagen. Bis jetzt.

Denn nach dem Debakel vor laufender Kamera ist in den USA die Debatte über einen Notfallplan voll entbrannt. Dabei ist allen Beteiligten klar: Joe Biden, der derzeit objektiv gesehen der aussichtsreiche Kandidat der Demokraten für die Präsidentschaftswahl ist und bereits die meisten Delegiertenstimmen der Vorwahlen auf sich hat vereinen können, müsste wohl gegen seinen Willen von dieser Position entfernt werden.

"Wir leben nicht mehr in den 1960er-Jahre. Die Wähler wählen den Kandidaten. Und er ist der Kandidat", kommentierte CNN-Analyst und Partei-Stratege David Axelrod die Lage.

Der Hintergrund: Die gegenwärtige Vorwahlordnung, die die Macht eher bei den Wählern als bei den Parteigranden sieht, entstand nach Unzufriedenheit mit der Nominierung von Vizepräsident Hubert Humphrey im Jahr 1968, der trotz des Rückzugs von Präsident Lyndon Johnson und inmitten von Protesten und Gewalt auf der Democratic National Convention in Chicago nominiert wurde.

Im Falle eines Rückzugs Bidens aus dem Rennen wäre die Situation 2024 allerdings eine andere. Wie bereits im Februar berichtet, müssten die Delegierten auf dem Parteitag, der im August in Chicago stattfinden wird, einen neuen Kandidaten wählen.

Delegierte werden wichtig

Angesichts der unklaren Situation rücken diese Delegierten ins Schlaglicht. Mehr als 3.900 Delegierte, die bisher Biden verpflichtet sind und von seiner Kampagne bestätigt wurden, wurden bis zum Stichtag am 22. Juni ausgewählt.

Mögliche Nachfolger Bidens könnten unter anderem Vizepräsidentin Kamala Harris oder andere prominente Demokraten sein, die sich eine effektivere Kampagne gegen Trump zutrauen.

Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom, der Biden nach der Debatte unterstützte, könnte ein möglicher Herausforderer sein.

Tausch des Kandidaten birgt Risiken

Doch ein Tausch des Kandidaten birgt Risiken. Die Entscheidung über einen Ersatz könnte zu Spannungen und Auseinandersetzungen unter den Delegierten führen.

Überdies gibt es die sogenannten "Superdelegierten", etwa 700 führende Parteimitglieder und gewählte Amtsträger, die aufgrund ihrer Position automatisch in diese Position gelangen.

Sie dürfen normalerweise im ersten Wahlgang nicht abstimmen, wenn sie das Ergebnis beeinflussen könnten, sind jedoch in nachfolgenden Wahlgängen stimmberechtigt.

Was, wenn Biden amtsunfähig wird?

Was passiert, wenn ein Kandidat nach dem Parteitag ausscheidet? Sowohl Demokraten als auch Republikaner haben verschiedene Verfahren etabliert, um eine solche Situation zu handhaben.

Es ist denkbar, dass der Vizepräsidentschaftskandidat zum Spitzenkandidaten aufsteigt, dies ist jedoch nicht garantiert. Die Demokratische Partei ermächtigt das Demokratische Nationalkomitee, nach Konsultation mit dem Parteivorsitzenden, Gouverneuren und Kongressführern das Kandidatenamt als vakant zu erklären.

Auf republikanischer Seite könnte das Republikanische Nationalkomitee einen neuen Kandidaten selbst auswählen oder den nationalen Parteitag erneut einberufen.

Rechtslage unklar

Die Frage, ob ein Vizepräsidentschaftskandidat automatisch zum Präsidentschaftskandidaten aufsteigt, ist offen. Die Parteiregeln schreiben dies nicht vor, obwohl es das wahrscheinlichste Szenario wäre.

Solche Fälle gab es in der jüngsten Geschichte USA durchaus. Etwa den demokratischen Vizepräsidentschaftskandidaten von 1972, Senator Thomas Eagleton, der nach der Nominierung zurücktreten musste und durch Sargent Shriver ersetzt wurde.

Doch wenn ein gewählter Präsident vor seinem Amtsantritt handlungsunfähig würde, und das befürchten politische Beobachter im Fall Bidens, gibt es rechtliche Unklarheiten.

Nach der Verfassung werden die Stimmen für das Präsidentenamt technisch von Wahlleuten in den Landeshauptstädten abgegeben. Laut einer Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des US-Kongresses würde es Sinn machen, dass der Vizepräsident zum Präsidenten gewählt wird. Das Gesetz selbst ist jedoch nicht eindeutig.

Die Debatte um die Zukunft Bidens ist damit eng verknüpft mit der Befürchtung, dass sich die politische Krise der USA verschärfen könnte – mit allen damit einhergehenden politischen Implikationen.