Experten: Russland dominiert Abnutzungskrieg aufgrund überlegener Rüstungsproduktion

Einer der zerstörten T-80-Panzer der ukrainischen Streitkräfte

(Bild:  lev radin / Shutterstock.com)

Experte warnt in Studie: Russland produziert zehnmal mehr Panzer als der Westen. Europas Waffenbestände sind bald erschöpft. Kann die Ukraine dem standhalten?

Ein Abnutzungskrieg ist eine Art der Kriegführung, bei der es nicht in erster Linie um die Eroberung feindlichen Territoriums geht. Ein Eroberungskrieg wird auch als Manöverkrieg bezeichnet, bei dem es darum geht, durch schnelle Angriffe mit gepanzerten Fahrzeugen möglichst viel Raum zu erobern und zu halten.

Was ist ein Abnutzungskrieg?

Beim Abnutzungskrieg hingegen geht es darum, dem Gegner möglichst viel Schaden zuzufügen und dabei die eigene Kampfkraft und Ausrüstung möglichst umfassend zu schonen. Dem Wesen des Abnutzungskrieges widerspricht z. B. jeder Versuch, riskante Gebietseroberungen zu unternehmen, die geeignet sind, eigene hohe Verluste herbeizuführen.

Ein Abnutzungskrieg hat daher den Charakter eines Stellungskrieges, in dem scheinbar nicht viel passiert, in dem messbare militärische Erfolge auf dem Schlachtfeld, messbar in Gebietseroberungen, ausbleiben.

In der Ukraine haben wir es seit Monaten mit einem Abnutzungskrieg zu tun, in dem sich die Fronten nur langsam und zäh bewegen. Es scheint, als befänden sich beide Kriegsparteien in einer Art Pattsituation. Doch der Schein trügt, denn die Zeit arbeitet für die russischen Armeen. Denn dem kollektiven Westen unter Führung der USA gelingt es nicht, mehr Rüstungsgüter zu produzieren als Russland.

Dies behauptet Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR) in einem Strategiepapier vom Januar dieses Jahres. Das Papier ist zwar schon etwas älter, verdient aber Beachtung, weil es die Rüstungszahlen der Nato mit denen Russlands vergleicht, die sich seitdem nicht wesentlich verändert haben. Gressel geht in seiner Schlussfolgerung davon aus, dass, wenn der bisherige Trend so weitergeht, Russland den Abnutzungskrieg für sich entscheiden wird.

Rüstungsproduktion: Russland und Nato im Vergleich

Das ECFR wird zu einem großen Teil aus US-Mitteln finanziert und kann als Thinktank bezeichnet werden, der militärische Eskalation diplomatischen Lösungen vorzieht. Das Papier plädiert daher vorwiegend für eine deutliche Steigerung der europäischen Rüstungsanstrengungen, wie sie von den wechselnden US-Administrationen seit Langem gefordert wird.

Doch nicht nur der hier präsentierte Vergleich der Rüstungskapazitäten ist hochinteressant. Gressel geht davon aus, dass Russland derzeit in der Lage ist, seinen Streitkräften jährlich etwa 1.000 Kampfpanzer und eine ähnliche Zahl von Schützenpanzern und gepanzerten Mannschaftstransportwagen zuzuführen. Diese würden überwiegend aus Altbeständen modernisiert.

Das britische Royal United Services Institute (RUSI) geht in einer erst vor 5 Tagen veröffentlichten Studie sogar von noch höheren Produktionszahlen aus, dort ist von rund 1.500 Panzern und 3.000 weiteren gepanzerten Kampffahrzeugen für dieses Jahr die Rede. Allerdings folgt RUSI hier den offiziellen Verlautbarungen des russischen Verteidigungsministeriums.

Die brasilianische Militäranalystin Patricia Marins hält niedrigere Panzerzahlen für wahrscheinlicher. Sie schätzt, dass Russland nur etwa 560 Kampfpanzer pro Jahr bauen kann. Die Gesamtzahl aller gepanzerten Fahrzeuge, die bis 2024 in die russische Armee gelangen, schätzt sie aber noch höher auf 2.500-2.600. Interessant ist auch Marins Beobachtung, dass die russische Armee die Reparatur beschädigter Fahrzeuge offenbar erheblich beschleunigt hat. Sie führt aus:

Auch wenn die Russen ihren Produktionsbehauptungen nicht gerecht werden, so reparieren sie doch rasch ihre Ausrüstung, indem sie Reparaturzentren in die Nähe der Grenzen verlegen.

Denn meist werden Panzerfahrzeuge nur beschädigt und nicht vollständig zerstört, wie auf den zahlreichen Telegram- und X-Videos deutlich zu sehen ist. Die Plattform Oryx, die russische und ukrainische Materialverluste dokumentiert, listet häufig nur beschädigte Fahrzeuge auf, sodass die tatsächlichen russischen Verluste weit geringer sein dürften, als von Oryx behauptet.

Umgekehrt ist es gerade die Reparaturlogistik der Nato, die vielen Experten Kopfzerbrechen bereitet. So hat Rheinmetall erst kürzlich in der Ukraine eine Werkstatt eröffnet, die Reparaturen vor Ort durchführen kann, deren Größe allerdings sehr bescheiden erscheint und wohl eher eine Art Versuchsballon ist.

Reparatur und Logistik: Entscheidender Faktor im Krieg

Es bleibt festzuhalten, dass die Möglichkeiten Russlands, Verluste auf dem Schlachtfeld zu ersetzen, äußerst schwer zu ermitteln sind und die Zahlen daher zwangsläufig unscharf bleiben. Erschwerend kommt hinzu, dass die Russische Föderation über erhebliche Hallenkapazitäten verfügt, in denen geparkte Panzer untergebracht werden können, die von Satelliten nicht sichtbar sind. Gleiches gilt für unterirdische Lagerkapazitäten, etwa entlang der Transsibirischen Eisenbahn.

Gressel resümiert, dass Russland seine Kriegsanstrengungen aufrechterhalten könnte, wenn es diese Lager aufbrauchen würde. Doch:

Das gilt auch für den Westen. Die Partner der Ukraine haben bisher 585 Kampfpanzer, 550 Schützenpanzer, 1.180 gepanzerte Mannschaftstransportwagen und über 350 Selbstfahrlafetten geliefert. Das sind beeindruckende Zahlen, aber bisher stammen diese Fahrzeuge überwiegend aus Reservelagern. Dabei handelte es sich größtenteils um sowjetische Altbestände, z.B. zahlreiche T- 72-Panzervarianten oder BMP-Schützenpanzer aller Art, die bei der Umstellung der neuen NATO- Länder auf westliche Ausrüstung übrig geblieben waren. Andere Länder lieferten viele leichte gepanzerte Fahrzeuge, die sie für die Kriege in Irak und Afghanistan beschafft hatten.

Westen am Limit: Altbestände erschöpft

Diese Altbestände seien gegen Ende des vorigen Jahres weitestgehend erschöpft gewesen.

Nur die USA verfügen noch über große Reserven an gepanzerten Fahrzeugen, aber das Pentagon weigert sich, darauf zurückzugreifen. Die kontinuierliche Erosion der industriellen Basis der US-Verteidigungsindustrie für gepanzerte Fahrzeuge und schwere Geschütze in 30 Jahren Krieg mit geringer Intensität bedeutet nun, dass Reparaturen sehr lange dauern.

Bisherige Beobachtungen und Vergleiche der militärischen Fähigkeiten Russlands mit denen der Nato haben sich hauptsächlich auf die schwindenden russischen Reserven konzentriert. Es gibt viele OSINT-Analysten (Open Source Intelligence), die sich ausschließlich mit der Auswertung von Bildern entdeckter russischer Militärlager beschäftigen. Die schwindenden Reserven der Nato werden in der Regel außer Acht gelassen.

Und wenn diese Reserven erst einmal aufgebraucht sind, wird der Nachschub für den kollektiven Westen sehr schwierig, so Gressel weiter.

Die europäischen Fabriken produzieren nur 24 Leopard-2-Panzer pro Jahr. In Schweden wurden früher im Durchschnitt nur 45 Schützenpanzer CV90 pro Jahr gebaut, aber die Aufträge sind weitgehend erfüllt und die Produktionsraten sind zurückgegangen. Für die deutschen Lynx- und britischen Ajax-Schützenpanzer liegen noch keine Zahlen vor, da sie gerade erst in Produktion gehen, aber es werden nicht mehr als ein paar Dutzend pro Jahr sein. In den USA haben Verzögerungen und Streitigkeiten über Nachfolgeprogramme für bestehende Fahrzeuge die Fahrzeugproduktion verlangsamt. Die Produktion des Schützenpanzers M2 Bradley läuft auf sehr niedrigem Niveau weiter, um das Werk am Leben zu erhalten. Die Produktion des Kampfpanzers M1 Abrams wird durch Exportverträge mit Polen am Leben erhalten und kann erst nach der Entwicklung einer neuen, leichteren und verbesserten Version wieder auf ein höheres Tempo gebracht werden.