Guatemela ist in einem desolaten Zustand
Gespräch mit Markus Kneissler von der Guatemala-Koordinationsgruppe von amnesty international
Im neueste Jahresbericht von amnesty international macht die Menschenrechtsorganisation auf die Situation in vielen Ländern aufmerksam, die zu wenig Beachtung finden (Unter Ausschluss der Öffentlichkeit). Ein Beispiel ist Guatemala, das noch immer unter den Folgen des Bürgerkrieges leidet. Telepolis sprach mit Markus Kneissler von amnestys "CASA- und Guatemala-Koordinationsgruppe" über die aktuelle Situation eines Landes, das in der öffentlichen Wahrnehmung praktisch keine Rolle spielt. Übrigens auch hierzulande nicht, obwohl sich in Guatemala nach Angaben des Auswärtigen Amtes die mit Abstand größte deutsche Kolonie Zentralamerikas befindet und Deutschland in den bilateralen Handelsbeziehungen der wichtigste Partner in Europa ist.
Der Bürgerkrieg ist seit 1996 offiziell beendet. Warum kommt das Land trotzdem nicht zur Ruhe?
Markus Kneissler: Weil die Gründe, die vor langer Zeit zum Krieg geführt haben – die extreme Armut, die ungleiche Verteilung des Landbesitzes und der Ausschluss großer Teile der Bevölkerung von den politischen Gestaltungsmöglichkeiten – noch immer die gleichen sind.
Wer ist Ihrer Meinung nach in erster Linie für die andauernden Menschenrechtsverletzungen verantwortlich?
Markus Kneissler: Das ist schon die Regierung. Es gibt zwar keine flächendeckende Unterdrückung, aber es wird viel zu häufig und viel zu schnell Gewalt angewendet. In den meisten Fällen drehen sich die Auseinandersetzungen um Arbeits- und Landkonflikte, was vor allem damit zusammenhängt, dass die Besitzverhältnisse in vielen Regionen völlig ungeklärt sind. Es gibt in Guatemala kein Katasteramt oder eine vergleichbare Einrichtung, d.h. Ländereien wurden immer wieder ganz einfach besetzt. Die neue Regierung geht mit Räumungen gegen diese Besetzungen vor, vertraut dabei aber nicht auf Verhandlungslösungen, sondern auf Tränengas und Schusswaffen. Das ist – auch wenn Besetzungen illegal sind – natürlich keine angemessene Reaktion, und es sind auch schon zahlreiche Menschen verletzt worden oder zu Tode gekommen.
Eine weitere Ursache für die Menschenrechtsverletzungen ist die andauernde Straflosigkeit. Die Täter der Vergangenheit sind nie zur Rechenschaft gezogen worden. Wo die Gesetze versagen, kommt es zu Akten der Selbstjustiz.
Glauben Sie, dass Präsident Óscar Berger fähig und willens ist, die Probleme grundlegend und langfristig zu lösen?
Markus Kneissler: Er tut auf jeden Fall zu wenig, um die Situation in den Griff zu bekommen. Es geht auch in Guatemala um Mehrheitsverhältnisse, Grabenkämpfe im Parlament und das Gegeneinander großer Interessengruppen. Selbst wenn die Regierung nicht aktiv Gewalt ausübt, sondern diese nur duldet – sie schafft eben nicht die Strukturen, um die Probleme zu lösen.
Wie groß ist der offene oder latente Rassismus, der sich gegen die indigene Bevölkerung richtet? Bei den politischen und wirtschaftlichen Machthabern handelt es sich doch vor allem um Nachfahren der Kolonialherren.
Markus Kneissler: Das ist prinzipiell richtig. Es ist nach wie vor die indigene Bevölkerung, d.h., die Mayas oder noch genauer: verschiedene Maya-Gruppen, die politisch und sozial unterdrückt werden. Diese Situation prägt natürlich den Alltag in Guatemala.
Welche Rolle spielen die Vereinigten Staaten, die zu Zeiten des Bürgerkriegs vor allem Öl ins Feuer gegossen haben?
Markus Kneissler: Die militärische Zusammenarbeit spielt kaum noch eine Rolle, doch es gibt andere Kooperationen, die große Probleme verursachen. Da ist zum Beispiel das Freihandelsabkommen CAFTA (Central America Free Trade Agreement), das von El Salvador, Honduras, Guatemala, Costa Rica, Nicaragua, der Dominikanischen Republik und den USA geschlossen wurde. Die ländliche oder indigene Bevölkerung hat Angst vor billigen Importen aus den USA. Doch ihre Proteste waren erfolglos: die Ratifizierung des Abkommens ist in Guatemala bereits erfolgt.
Bei den entsprechenden Demonstrationen sind die Sicherheitskräfte übrigens auch mit außergewöhnlicher Brutalität vorgegangen, zeitweise wurde sogar das Militär für die Wahrung der inneren Sicherheit eingesetzt und damit klar gegen die Bestimmungen des Friedensabkommens verstoßen. Im Übrigen würde CAFTA eine Verschärfung des Schutzes von geistigem Eigentum und damit der Patentrechte bedeuten. Das wäre dann auch eine medizinische Katastrophe, weil sich viele Guatemalteken teurere Medikamente nicht mehr leisten könnten.
(Anm. d. Red.: Das befürchtet auch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, die Ende 2004 auf die lebensbedrohlichen Folgen einer mehrjährigen "data exclusivity” hingewiesen hat. Allein für die fast 70.000 Guatemalteken, die mit dem HIV-Virus leben müssen und von denen etwa 7.000 dringend medizinische Behandlung benötigen, könne eine Wartezeit auf erschwingliche Medikamente "möglicherweise das Todesurteil" bedeuten. Nach Angaben von "Ärzte ohne Grenzen" erhalten schon jetzt nur 2.700 der mit HIV-infizierten Patienten eine Behandlung mit antiretroviralen Medikamenten.)
Die Weltgemeinschaft scheint sich nicht über Gebühr für das Land zu interessieren, geschweige denn zu engagieren. Hat Guatemala eine Chance, die Probleme aus eigener Kraft zu lösen?
Markus Kneissler: Nein, das glaube ich nicht. Nach dem Ende des Krieges sollten drei große Mechanismen greifen. Die UN-Beobachtermission MINUGUA hat wertvolle Erkenntnisse geliefert, ist aber – nach mehreren Verlängerungen, Ende letzten Jahres ausgelaufen. Die Konsultativgruppe, in der sich lateinamerikanische und europäische Länder engagieren, soll möglicherweise auch aufgelöst werden, obwohl hier immerhin ein Forum existiert, von dem aus unabhängig beobachtet, über Kreditvergaben entschieden oder von Nicht-Regierungsorganisationen Lobbyarbeit geleistet werden kann.
Und dann ist da noch die "Comisión de Investigación de Cuerpos Ilegales y Aparatos Clandestinos de Seguridad", kurz: CICIACS. Mit dieser Kommission sollten illegale Körperschaften und geheime Sicherheitsapparate aufgedeckt und strafrechtlich verfolgt werden. Seitdem das Verfassungsgericht bestimmte Aspekte dieses Vorhabens für verfassungswidrig erklärt und die Regierung versprochen hat, Änderungsvorschläge zu erarbeiten, ist nichts Konstruktives mehr geschehen.
Steht Guatemala also vor der Selbstzerstörung?
Markus Kneissler: Jedenfalls ist ein desolater Zustand der Verrohung erreicht worden. Das sehen wir auch an der Gewalt gegen Frauen, die von Jahr zu Jahr erschreckendere Ausmaße annimmt. 2002 wurden 162 Frauen ermordet, 2003 waren es 383 und im vergangenen Jahr bereits 527. Offizielle Stellungnahmen machen die Bandenkriminalität für diese Situation verantwortlich, aber 2004 konnten nur sechs Fälle auf Bandenkriege zurückgeführt werden. Sechs von 527.
Wie ist das möglich?
Markus Kneissler: Oft werden den Frauen außereheliche Verhältnisse unterstellt, und die Akten landen dann, so unglaublich es uns vorkommen mag, im Schrank. Es kommt in den seltensten Fällen zu Anklagen, die Zahl der Verurteilungen tendiert gegen Null. Hier haben wir es in der Tat mit einem gesamtgesellschaftlichen Problem zu tun, aber auch dieses hängt mit den Hinterlassenschaften des Bürgerkrieges zusammen.
amnesty international startet am 9. Juni 2005 eine Kampagne, in deren Mittelpunkt die Gewalt gegen Frauen in Guatemala stehen wird. Nach der Veröffentlichung eines entsprechenden Berichts wird sich die Kampagne 12 Monate lang intensiv mit diesem Thema beschäftigen. Der "Jahresbericht 2005" von amnesty international erscheint im Fischer Verlag und kostet 13,90 €.