Guerrilla-Gärtner

Mai-Proteste sollen Stadtzentrum Londons in blühenden Garten verwandeln.

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Medien und Obrigkeiten haben ihre Mühe mit der Protestbewegung "Reclaim the Streets". Die Bewegung "ohne Führer, ohne Zentrum" hat - der Name ist Konzept - sich zum Ziel gesetzt, zu bestimmten Anlässen die Straßen wiederzuerobern. Die "kapitalistische Vorzeigetechnologie Auto" soll für einen Tag von den Straßen verbannt werden, die von mit Gartenerde, Pflanzensamen und Wasser "bewaffneten" Demonstranten eingenommen werden. Unter dem Schlachtruf "Resistance is Fertile" (Widerstand ist fruchtbar) zelebrieren die Demonstranten eine Mischung aus Kinderkarneval, Straßenfest, Grillparty, Hippie-Happening und Open-Air-Rave.

Doch spätestens seit der Demonstration am 18.Juni im vergangenen Jahr, als unter dem Motto "Carneval against Capitalism" der Verkehr im Finanzzentrum Londons zusammenbrach und es bei den folgenden Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei zu Verletzten auf beiden Seiten und Sachbeschädigungen in Höhe von mehr als 2 Millionen Pfund kam, wird die Bewegung als gefährlich und gewaltbereit eingestuft. Zwar hat Reclaim The Streets seit Wochen das friedliche Gärtner-Motto auf ihrer Web-site publiziert, doch das hält weite Teile der Presse nicht ab, in ein ganz anderes Horn zu blasen.

"Carneval against Capitalism" in der Londoner City am 18.Juni 1999.

Ganz oben in den Prioritäten der Berichterstattung firmiert das Thema der Gewalt mit zum Teil an den Haaren herbeigezogenen Unterstellungen. Die Demonstranten werden beschuldigt, dazu aufzurufen, Spaten und anderes schweres Gartengerät mitzubringen, das dann als Waffe gegen die Polizei verwendet werden könne. Vor den Protesten gegen die Welthandelsorganisation in Seattle Ende November 1999 wurde Reclaim the Streets unterstellt, Depots mit Mini-Bomben und Tränengas anzulegen. Und eine Titelgeschichte eines Massenblattes vor einigen Wochen sah die Protestbewegung als Nest des Cyberterrorismus. Da die Banken undurchdringliche Firewalls errichtet hätten, würden die Cyberterroristen versuchen, das Personal der Unternehmen zu infiltrieren. Die eingeschleusten Aktivisten würden dann versuchen, in den Besitz von Passwörtern und User-Accounts von Finanzunternehmen zu kommen, schrieb der Evening Standard.

Letztere Meldung speiste sich aus einem Hinweis des Polizeigeheimdienstes an die Zeitungen. Die Polizei ist mit dem Hinweis auf die Gefahr des Cyberterrorismus im Begriff, massiv aufzurüsten und benötigt scheinbar neue Feindbilder. Darüberhinaus betrachtet die Metropolitan Police den 18.Juni 1999 als "Niederlage". Die Demonstranten hatten es mit einer geschickten Verwirrungstaktik verstanden, für zwei Stunden das Foyer des LIFFE (London International Futures Exchange) zu besetzen, während die Polizei an ganz anderer Stelle in den Menschenmassen steckengeblieben war. Die eingesetzte Polizeigewalt erschien überproportional, etwa als berittene Polizisten in eine tanzende Menge galoppierten - Bilder, die von allen Fernsehstationen gezeigt wurden.

Deshalb wählt die Polizei dieses Jahr eine ganz andere Strategie. Einerseits zählt man auf Übermacht, alle Polizeibeamten erhielten dieses Wochenende Urlaubsverbot und mehr als 5000 Beamte sind heute im Einsatz - die größte Polizeioperation in Großbritannien seit 30 Jahren. Zugleich ist der Zugang bisher - "softly, softly" - auf so wenig Konfrontation wie möglich ausgelegt. Eine Fahrraddemonstration am Freitag Abend mit knapp unter 1000 Teilnehmern verlief ohne gröbere Zwischenfälle. Eine Konferenz gestern mit anschließendem Fussballmatch und Straßenparty verlief ebenso friedlich.

Ein friedlicher Verlauf der Gärtneraktion heute ist den Organisatoren ein Anliegen, da nur dann die Chance besteht, dass auch ihre Anliegen die Betonwälle der Medienignoranz überwinden. Reclaim The Streets war Anfang der neunziger Jahre entstanden, als unter den Regierungen Thatcher und Major gigantische Straßenbauprogramme liefen, obwohl der Südosten Englands bereits eine der am dichtesten besiedelten Regionen mit einem der dichtesten Straßennetze der Welt war. Die Regierung Blair hatte in ihrem Wahlkampfprogramm 1997 noch eine Reihe "grüner" Themen, doch seitdem New Labour an der Macht ist, wurde jede Umweltinitiative vom Tisch gefegt, sobald sich Wirtschaftsinteressen bedroht fühlten. Reclaim The Streets verweist daher auf die "aufgestaute Frustration aus den neunziger Jahren". Ein weiterer Slogan ist, dass man zu handeln beginnt, weil man "des Wartens müde" (Those who are tired of waiting) ist.

Ein eigenes Kapitel der Missrepräsentation in den Medien ist die Darstellung der Aktivisten als eine Art antikapitalistischer Hippie-Fundamentalisten, deren Ideologie sich letztlich mit der weit rechts stehender Gruppen weitgehend überschneiden würde und die sich hauptsächlich aus arbeitslosen Schmarotzern und "Berufsdemonstranten" ohne klare Anliegen zusammensetzen würden. Mit der Konferenz an diesem Wochenende hat Reclaim The Streets hingegen versucht, ein deutlicheres inhaltliches Profil herauszuarbeiten, in dem Kritik an einseitiger Globalisierung, Biotechnologie, Ausbeutung menschlicher und natürlicher Ressourcen im Westen wie in den Entwicklungsländern an oberster Stelle stehen. Reclaim the Streets ist dabei sichtlich bemüht, Opposition und Dissidenz jenseits traditioneller Links-Rechts-Kategorien zu formulieren. So haben eine Reihe altlinker Gruppen versucht, die Konferenz für sich zu vereinnahmen und bezogen Stellung vor dem Eingang mit einschlägigem Flugblattmaterial. Die Organisatoren reagierten rasch und stellten "Recycling-Mülleimer für altlinke Propaganda" auf. Nach den Beispielen von Seattle und Washington wurde auch ein unabhängiges Medienzentrum eingerichtet. Besonders up-to-date sind dort die Live-Video- und Audio-Streams, leiden allerdings unter Server- und Bandbreitenkapazitätsproblemen.