Gut, dass protestiert wird, nur bitte nicht so böse
Von der Risikogesellschaft zur Konsensgesellschaft? Über die Schwierigkeit kollektiven Protests
G8 kam, die Welt sah, in Deutschland war Protestweltmeisterschaft (vgl. Nach dem Gipfel), jetzt aber redet kaum einer mehr davon. Warum? Über die Schwierigkeit kollektiven Protests, die Wirksamkeit politischen Aufruhrs im Internet und die Chance von Parteien und Gewerkschaften, künftig Teil der globalisierungskritischen Bewegung zu sein, sprach Telepolis mit Dieter Rucht, Demonstrationsforscher aus Berlin.
Vor wenigen Wochen gab es in den Medien beinahe nur Berichte über den G8-Gipfel. Jetzt hört man gar nichts mehr. War der Protest vielleicht nur ein aufgebauschtes Medienereignis?
Dieter Rucht: Nein, das würde ich so nicht sagen. Natürlich gibt es heute eine starke wechselseitige Beobachtung der Medien. Journalisten schauen, was andere Medien berichten und hängen sich dementsprechend an Themen und Trends an. So war es auch beim G8-Gipfel. Das ist aber keine neue Qualität, nur ein gradueller Unterschied aufgrund der Medienarmada, die da aufgekreuzt ist.
Sie haben die heutigen Protestierenden im Deutschlandfunk als „lose Koalition“ bezeichnet. Ist das eine neue Qualität und verläuft sich darum alles schnell wieder?
Dieter Rucht: Die heutigen Protestierenden haben im Gegensatz zu früheren, ideologisch kompakteren Bewegungen nur einen diffusen gemeinsamen Nenner. Das Spektrum reicht von anti-imperialistischen und Antifa-Gruppen über Sozialdemokraten bis ins christliche Lager. Bewegungen mit einem konkreten thematischen Nenner fällt es hingegen leichter, sich zu verdichten und stabile Strukturen herauszubilden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Anti-Atomkraftbewegung der 70er Jahre, die genau wusste, was sie wollte. Und sie hatte sogar einen physischen Angriffspunkt in Form der Atomkraftwerke mitsamt den Firmen. Bei einem Riesenthema wie der Globalisierung fehlt der Bewegung nicht nur der eindeutige Nenner; viele wissen auch gar nicht, was darunter genau zu verstehen ist.
Vager gemeinsamer Nenner
Bewegungen brauchen immer einen institutionalisierten oder zumindest organisierten Kern. Fehlt das der heutigen Protestbewegung?
Dieter Rucht: Sicher ist die Bewegung nicht nur thematisch sehr breit; sie ist auch ideologisch heterogen. Und darum haben die Gruppen auch zunächst im Alltag wenig Berührungspunkte. Dieser vage Nenner bringt die Gruppen dann zwar zu bestimmten Anlässen zusammen. Wenn der Protest aber vorbei ist, hat er in der Regel keine alltagspraktische Bedeutung mehr für die verschiedensten Akteure - so war es auch beim G8-Gipfel.
Fehlt der Protestbewegung vielleicht eine Partei, die ihre Interessen bündelt und ins Parlament bringt, so wie das den Grünen ab Anfang der 80er Jahre im Zuge der Öko-Bewegung gelang?
Dieter Rucht: Zumindest gibt es heute keine parteiförmige institutionelle Ausdrucksform, die die Interessen der Protestierenden gebündelt gegenüber politischen Entscheidungsträgern im Sinne eines Sprachrohrs vertreten könnten. Die Bewegung ist zu vielstimmig und will sich auch gar nicht von einer Partei führen lassen. Das lässt sich aber nicht als Mangel begreifen.
Was meinen Sie?
Dieter Rucht: Zunächst wäre es der Tod der Bewegung, so argumentieren zumindest manche, wenn sie von oben dirigiert würde, wenn sie zudem anfinge, klar zu definieren, welches die wichtigsten und welches die weniger wichtigen Probleme seien. Weder Richtungslosigkeit noch eine zu straffe Führung mit klarer Prioritätenvorgabe wäre für die globalisierungskritische Protestbewegung heute hilfreich. Dann bestünde die Gefahr, dass die Gruppen zu sehr mit sich und ihren internen Problemen beschäftigt wären, als mit dem, was ihnen erst zur ihrer Existenz verholfen hat, nämlich die Notwendigkeit, Missstände anzuprangern.
Aber ist die Protestbewegung nicht zu sehr mit sich selbst beschäftigt? Sie schreiben selbst im gerade erst erschienen Sammelwerk zur Protestkultur „Was jetzt?“, dass es heute mehr um die auf Aufmerksamkeit zielende Inszenierung, nicht aber konkrete Inhalte des Protests ginge...
Dieter Rucht: Das bezog sich auf die mediale Berichterstattung. Aber verstärkend wirkt auch die expressive Seite der Bewegungen, die durch die mediale Rückspiegelung nochmals intensiviert wird. Vielfach geht es darum, sich mit den Zeichen und Symbolen öffentlich darzustellen. Der Protest ist heute auch ein Stück Selbstverwirklichung im Sinne von Identitätspolitik. Das galt aber auch schon für die Studentenbewegung. Auch damals demonstrierte man nachmittags am Berliner Kurfürstendamm und freute sich darauf, den Aufstand abends nochmals in der Tagesschau zu erleben. Darüber hinaus ist das Hauptmotiv aber nicht Selbstdarstellung, sondern die Empörung über die Zustände in dieser Welt. Das darf man nicht vergessen.
Man geht mit ideologisch Andersdenkenden entspannter um als früher
Warum aber gerade Afrika als Thema und warum jetzt? Warum dieser Altruismus in einer Zeit, in der die Leute stark mit sich selbst und den Problemen in diesem Lande beschäftigt sind? Wurde Afrika als Symbol benutzt, um sich selbst aufzuwerten?
Dieter Rucht: Man kann damit zumindest einen Image-Gewinn erzielen. Es schafft zudem eine gewisse moralische Entlastung, wenn man sich zu anderen herunter beugt und hilft. Afrika eignet sich sehr gut als Projektionsfläche. Es ist der ärmste Kontinent. Dort konzentriert sich das Elend der Welt. Auch musste man aus Afrika weniger Kritik erwarten. Es gibt dort keine solchen starken sozialen Bewegungen wie in anderen Kontinenten. In Lateinamerika begegnet man als Regierung oder NGO besser organisierten und selbstbewussteren Bewegungen. Die wollen die Bedingungen der Hilfe durch andere stärker mitbestimmen.
Das wollen auch die globalisierungskritischen Protestgruppen. Ulrich Beck folgert in diesem Zusammenhang, dass die „Marke der Bewegung“ heute zugleich ihr „Makel“ sei. Die Gruppierungen seien bunte, plurale und untereinander zerstrittene Gruppierungen. Die von ihm eigenhändig prognostizierte Individualisierung verunmögliche also zunehmend kollektives, politisches Engagement. Wie sehen Sie das?
Dieter Rucht: Die Gruppen sind untereinander nicht mehr zerstritten als früher. In diesem Punkt sehe ich sogar Fortschritte in den letzten Jahrzehnten. Eine bornierte Rivalität wie in den 70er Jahren, die etwa zwischen unterschiedlichen marxistischen Gruppen existierte, gibt es heute kaum mehr. Zugleich bilden die heutigen Bewegungen aufgrund ihrer Vielfalt eine heterogene Koalition. Darin drückt sich aus, dass die für die 70er Jahre charakteristischen Grabenkämpfe, insbesondere unter kommunistischen Gruppen, deutlich abgenommen haben. Man geht mit ideologisch Andersdenkenden entspannter um als früher; man hört einander zu, selbst wenn man in der Sache anderer Meinung ist.
Gummiwand: Applaus aus dem Lager der Kritisierten
Ist nicht gerade das auch ein Problem, wenn alle so tun, als könnten sie miteinander? Selbst die „Gegner“ klatschen heute und begrüßen den Protest. Fehlt der Bewegung ein konkreter Gegenspieler?
Dieter Rucht: Das ist in der Tat so. Protestbewegungen können daran wachsen, wenn sie einen klar profilierten Gegenspieler haben. Einen, der womöglich auch gegen sie offensiv vorgeht. Heute hat sich die Gegenseite stark ausdifferenziert. In den späten 60er Jahren war beispielsweise die herrschende, durch die Springer-Presse verkörperte Reaktion auf die Studentenbewegung, dass das alles faule langhaarige Affen seien. Es gab also eine klare Frontstellung. Und man konnte sich am Gegner reiben, zugleich auch stärken.
Die heute protestierenden Studenten rennen gleichsam gegen eine Gummiwand. Es wird nachgegeben, man bekommt sogar Applaus aus dem Lager der Kritisierten. Dann ist es schwer für eine Bewegung, ihren Kern, ihre Identität, ihre klare Stoßrichtung und Entschiedenheit zu bewahren.
In Bezug auf den G8-Protest sagten plötzlich auch Wolfgang Schäuble und Angela Merkel, „gut, dass protestiert wird, nur bitte nicht so böse“. Will man damit den Protestierenden den Wind aus den Segeln nehmen?
Dieter Rucht: Das will man. Die etablierte Politik erklärte sich ja selbst zum Anwalt für Afrika und setzte ökologische Fragen auf die Agenda. Es hieß plötzlich, dass man ja Klimaschutz betreiben wolle, das aber nur nicht so schnell und radikal umsetzen könne wie von den Kritikern gefordert. Auch wurde die USA zur Bremse in der Klimapolitik erklärt, um so die eigenen Versäumnisse zu relativieren. Kritiker und Kritisierte scheinen also das Gleiche zu wollen. Angesichts dessen fällt es der Protestbewegung schwer, sich zu konturieren, eine klare Frontstellung aufzubauen...
Protest hat einen gewissen Schick
...auch das Hochglanz-Boulevardmagazin Vanity Fair ließ plötzlich die Reichen gegen Armut sprechen. Ist Protest nur ein Image?
Dieter Rucht: In diesem Zusammenhang ja. Protest hat einen gewissen Schick. Solche Gesten zeugen von symbolischer Vereinnahmung, zugleich aber auch von einer paternalistischen Haltung gegenüber den Protestierenden. Man sagt, sie sähen zumindest die Probleme, auch wenn sie keine Lösungen anzubieten hätten.
...bewegen wir uns von der Risikogesellschaft zur Konsensgesellschaft? Wäre das ein Fortschritt?
Dieter Rucht: Das wäre ja nur ein vermeintlicher Fortschritt. Wenn wir uns die materiellen Interessenlagen und die Kluft zwischen Arm und Reich vor Augen halten, bleiben ja die Fronten. Sie haben sich sogar verschärft, aber werden durch einen vermeintlichen Konsens kaschiert. Als Beispiel möchte ich das Weltwirtschaftsforum anführen, dessen Existenz erst das Weltsozialforum als Gegenspieler und Herausforderer auf den Weg gebracht hat. Das Weltwirtschaftsforum präsentiert sich heute beinah wie eine karitative NGO. Es werden Aids und Hunger thematisiert und entsprechende Projekte werbewirksam auf den Weg gebracht. Wenn man aber hinter diese Kulisse schaut, wird schnell deutlich, dass es primär um eine Imageaufbesserung der Wirtschaft geht, deren Eliten sich mit politischen Eliten zum Plaudern treffen, aber an ihrem neoliberalen Kurs festhalten.
Auch die Protestbewegung braucht Vorbilder und prominente Leute, das sagen Sie selbst. Sie nennen Prominenz für die Bewegung ein „Aufmerksamkeitskapital“. Was meinen Sie damit?
Dieter Rucht: In diesem Punkt gibt es zunächst zwei widerstreitende Tendenzen. Zum einen werden Vorbilder intern, also von der Bewegung selbst, wie auch extern, so etwa von den Medien produziert. Das kann sicher nützlich sein, denn diese Personen transportieren Botschaften nach außen. Sie verleihen der Bewegung ein Gesicht und eine Stimme. Zum anderen sollte eine Bewegung nicht auf Einzelpersonen reduziert werden. Das kann auch kontraproduktiv sein. Darum gibt es auch eine entgegengesetzte Tendenz innerhalb der globalisierungskritischen Bewegung, die strikt basisdemokratisch ausgerichtet ist. Man will diesen Rednern nicht immer eine große Bühne bieten, sondern sich in kleinen Gruppen inhaltlich austauschen.
Gegen die Vereinnahmung von Symbolen kann man sich schwer wehren
Sie sprechen im Buch „Was jetzt?“ von vier heute den Protestierenden zur Verfügung stehenden Ressourcen: Masse, Radikalität, Kreativität und Prominenz. Behindern sich diese Ressourcen nicht auch? Radikale Ästhetik ist gerade durch die Vermarktung rebellischer Attitüden massenkompatibel. Wird es dadurch für die Protestbewegung schwerer, kreativ zu sein und ein klar abgegrenztes Profil zu haben?
Dieter Rucht: Die Ressourcen Radikalität und Massenwirkung schließen sich zumindest in diesem Falle gegenseitig aus. Das finden wir speziell in Jugendkulturen, wenn eine rebellische Attitüde vermarktet und ihre Träger dadurch enteignet werden. Das Phänomen ist aber nicht ganz neu. Dominante Kulturen provozieren Gegenkulturen, die wiederum Gefahr laufen, aufgesogen und enteignet zu werden. Auch muss man zwischen Symbolen und Argumenten unterscheiden. Gegen die Vereinnahmung von Symbolen kann man sich schwer wehren. Man kann seiner Symbole beraubt werden, zum Beispiel, wenn Rechtsextreme Che Guevara-Shirts tragen. Mit Argumenten kann man sich gegen Versuche der Vereinnahmung wehren und auf Differenzen beharren.
Gerade im Globalisierungsgewühl werden aber Schlagworte von Rechts wie von Links bedient. Antikapitalistischer Tenor erhallt mit Parolen wie „Tod dem Kapital“ von beiden Seiten.
Dieter Rucht: Das gibt es. Doch auch wenn man sich gleicher Symbole und Schlagworte bedient, sind diese Gemeinsamkeiten nur vordergründig; sie treffen in der Regel nicht den Kern. Auch sind diese äußerlichen Ähnlichkeiten nicht neu. Schon die Nationalsozialisten versuchten, linke Elemente aufzugreifen, den Begriff Sozialismus, der ja immer internationalistisch gedacht war, zu übernehmen und nationalistisch umzudeuten. Was dennoch eine neue Qualität ist, ist die Geschwindigkeit, mit der die Verbreitung von Symbolen und Begriffen stattfindet.
Die Möglichkeiten und Funktionen des Internet werden maßlos überschätzt
Da spielt das Internet eine entscheidende Rolle. Wird das Netz die künftige Form kollektiven Protests sein?
Dieter Rucht: Nein, das Internet fördert nur bereits mobilisierte Akteure, es ersetzt nicht den physischen Protest. Das Internet spielt eine wichtige Rolle, wenn es um die Beschaffung und Verteilung von Informationen geht. Die Möglichkeiten und Funktionen des Internet werden aber maßlos überschätzt. Unpolitische Leute werden nicht durch das Herumflanieren im Netz politisiert und aktiviert. Da muss zuvor schon das Interesse an entsprechenden Themen und die Bereitschaft zum Protest vorhanden sein...
...Mausklicks können auch kein Gruppengefühl ersetzen...
Dieter Rucht: Das auch. Das Internet ist kein funktionales Äquivalent für die konkrete Erfahrung von kollektiver Identität. Der Protest auf der Straße oder die gemeinsame Anreise zu einem Protest bedeutet nicht nur einen notwendigen Aufwand, sondern bilden auch dem Rahmen für das Erlebnis von Gemeinschaft.
Sind Versammlungen wie der Straßenprotest auch wichtig, weil medialer Protest nicht der Wirklichkeit entspricht? Der O-Ton ist geschnitten, der Film gekürzt. Das Zusammenkommen von Protestierenden auf der Straße hingegen scheint real.
Dieter Rucht: Zumindest ist ein solcher Protest glaubwürdiger. Wenn beispielsweise im Internet per Mausklick 100.000 Zustimmungen zu einem Sachverhalt erfolgen, dann ist das nicht das gleiche wie 100.000 Personen, die sich auf der Straße versammeln. Man erlebt das Gleiche an gleichem Ort und im gleichen Moment, vielleicht sogar etwas Außergewöhnliches, das sich schwer in Worte fassen lässt. Zudem können gemeinsame Proteste auch einen weiteren Motivationsschub auslösen, ein Empowerment für künftige Aktionen. In diesen Momenten geht es nicht einmal um die Themen an sich; es geht darum, dass der Funke überspringt. Und dieser Funke kann im Internet schwerlich überspringen.
Gewerkschaften und Parteien: Vereinscharakter ist immer mehr Leuten zuwider
Dieser Funke springt auch immer weniger von den Parteien und Gewerkschaften auf die Demonstrierenden über. Warum?
Dieter Rucht: Wir verzeichnen in den letzten Jahrzehnten eine zunehmende Skepsis gegenüber Großinstitutionen, speziell gegenüber formalen Organisationen, die mit Satzungen und Geschäftsordnungen daherkommen. Dieser Vereinscharakter ist immer mehr Leuten zuwider. Und solange Parteien und Gewerkschaften einen solchen Stil pflegen, werden sie Schwierigkeiten haben, junge Leute zu rekrutieren und zu begeistern.
Welche Chance haben Parteien und Gewerkschaften künftig, noch Teil dieser globalisierungskritischen Bewegung zu sein?
Dieter Rucht: Parteien und Gewerkschaften müssen sich zunächst öffnen und in ihren Formen flexibilisieren. Es geht nicht mehr darum, ob jemand beispielsweise ein Mitgliedsformular ausfüllt. Soziale Bewegungen haben gegenüber Parteien und Gewerkschaften den Vorteil, für junge Leute attraktiv zu sein, da sie das Gegenstück zu sklerotischen Organisationen sind. Entweder lernen Parteien und Gewerkschaften dazu, ändern ihre Formen und begreifen sich eher als Teil denn als Zentrum des Geschehens, oder sie schrumpfen auf Funktionäre und Beitragszahler zusammen. Ob dieser Trend langfristig anhält, das ist eine andere Frage. Vielleicht kommt wieder eine Phase, in der auch junge Menschen wieder feste und verbindliche Strukturen wollen. Im Moment sieht es nicht danach aus.
Gerade der rechtsextremen NPD gelingt es aber, für Jugendliche attraktiv zu sein. Der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di hingegen kaum. Woran liegt das?
Dieter Rucht: Die NPD stilisiert sich im Gegensatz zu Gewerkschaften stärker als Bewegung. Generell nimmt die Neigung ab, nur ein Rädchen im Getriebe sein zu wollen und für einen höheren Zweck bereitzustehen - bei den Linken ist dies noch extremer als bei den Rechten. Der Bezug auf das Individuum und auf seine Selbstverwirklichungsrechte wird stärker. Das bedeutet, dass man sich nicht stumm und kommentarlos in den Dienst einer Sache stellen will.
Spiegelt sich darin auch jenes Problem wider, dass die Leute nur punktuell zu Protestformen zusammen finden und sich danach wieder verlieren?
Dieter Rucht: Nein, es ist eher umgekehrt. Bewegungen mit ähnlichen Wertgrundlagen, aber unterschiedlicher Thematik nähern sich heute aneinander an, weil es diese starren Strukturen und Grenzziehungen nicht mehr gibt. Man begreift sich als Teil eines großen Netzwerkes. Und gerade diese Netzwerkstruktur, die übrigens auch für die Anfänge der Arbeiterbewegung charakteristisch war, erleichtert die Kommunikation und so den Umgang der unterschiedlichsten Gruppen untereinander. Das spricht sich zwar mittlerweile auch bei den Parteien rum - so wurde die SPD bereits als eine Netzwerkpartei vorgestellt. Die Wirklichkeit sieht aber bislang anders aus.
Schwierigkeiten der neuen Linken
Teil dieses Netzwerkes wäre auch gerne die gerade neu formierte Linke. Sie kommt besonders schlecht an...
Dieter Rucht: Das hat mehrere Gründe. Leute aus dem Bewegungsspektrum haben zum einen mit der der Parteiform als solcher ein Problem - unabhängig davon, ob die Partei einem ideologisch nahe steht oder nicht. Zum zweiten ist Die Linke aufgrund ihrer Vergangenheit stark vorbelastet. Die vormalige PDS wurde als SED-Nachfolgepartei identifiziert und hat zudem eine überalterte, männlich geprägte Mitgliederstruktur in Die Linke eingebracht. Das sieht zwar an der Führungsspitze etwas bunter und gemischter aus. Geht man aber auf Versammlungen auf dem Land, so dominiert diese alte Klientel. Ähnlich sieht es bei der Führungsriege der WASG aus. Ein dritter Faktor ist der Entstehungsprozess der neuen Partei. Das Gewürge und Gezänke um die Vereinigung der letzten Zeit erinnerte stark an die üblichen linken Machtkämpfe. Das steht im Widerspruch zum heutigen Bewegungsverständnis.
Wann waren Sie eigentlich das erste Mal auf einer Demonstration?
Dieter Rucht: Das muss 1968/69 gewesen sein. Ich habe jedoch nie mit der Inbrunst, mit dem Glauben und der Emphase an den Demonstrationen teilgenommen, wie das viele meiner Kommilitonen taten. Ich glaubte nie, dass nun plötzlich die Revolution vor der Tür stünde. Das hat auch mit meinem Elternhaus zu tun. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie und konnte mir einfach nicht vorstellen, dass man Menschen wie meinen Vater agitieren könne und er dann mit der roten Fahne durch die Straßen zieht. Auch hatte ich schon immer ein komisches Gefühl, im Chor irgendwelche Parolen und Slogans zu skandieren. Und ich hatte Probleme mit Führungsfiguren, selbst wenn es da auch nette, lustige und intelligente Charaktere gab.