"Haben eine gewisse Herdenimmunität"
In einer Südtiroler Gemeinde wurden bei rund 50 Prozent der getesteten Personen Corona-Antikörper nachgewiesen. Ein Anlass zur Hoffnung?
Seit letzter Woche werden in St. Ulrich im Grödental bis zu 2000 Corona-Antikörpertests durchgeführt. Die Auswertung der ersten 456 Antikörpertests in der knapp 5000 Einwohner zählenden Gemeinde sorgte für eine Überraschung: Demnach schlugen 48,9 Prozent der Tests positiv an. Ist das malerische Dorf in den Südtiroler Dolomiten schon auf dem Weg zur Herdenimmunität?
Mit drei bis sechs Prozent Durchseuchung hatte man von Beginn an gerechnet, auf jeden Fall etwas höher als in der restlichen Bevölkerung, wo man von einer Durchseuchung von rund zwei bis vier Prozent ausgeht. Das liegt vor allem an der Besonderheit der Gemeinde, ein beliebtes Ski- und Wandergebiet zu sein, das Touristen aus der ganzen Welt anzieht - viele auch aus China. Bis zum 11. März, als die Skigebiete geschlossen wurden, tummelten sich die Gäste noch in vollbesetzten Restaurants und in schlüpfrigen Après-Ski-Partys. Dementsprechend ungehemmt konnte sich das Virus hier lange Zeit verbreiten, wie es übrigens auch in anderen Skigebieten geschah.
Niemand hatte aber damit gerechnet, dass etwa die Hälfte der Dorfbewohner bereits mit dem Virus in Kontakt getreten ist. Noch nicht einmal der Hotelier, der die flächendeckenden Schnelltests organisiert hat. Klaus Sanoner, der unbestrittene Hotelkönig im Tal, wollte ursprünglich nur seine eigenen Mitarbeiter testen lassen. Als er dann gemerkt hätte, dass auch in der Bevölkerung Interesse an einer Testung auf Antikörper bestand, habe er die Aktion ausweiten lassen, erklärte Sanoner gegenüber einem lokalen Nachrichtenportal.
Für ihn, genauso wie für die Gemeindeärzte, welche die Tests durchgeführt haben, ist die Schlussfolgerung klar: Die Grippewelle, die in den letzten Wochen durch das Tal ging, war gar keine normale Grippe - sondern eine COVID-19-Welle, ausgelöst durch das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2. Besonders bemerkenswert: Fast ein Drittel der positiv Getesteten gab an, keine Symptome gehabt zu haben. Für den Gemeindearzt Simon Kostner ist das ein Anzeichen, dass man bereits "eine gewisse Herdenimmunität" erreicht hat.
Damit verbunden ist auch die Hoffnung, dass das Ergebnis über die Grenzen der Gemeinde hinaus eine optimistische Neueinschätzung der Frage zulasse, wie weit es noch bis zur Herdenimmunität ist. Was natürlich auch mit einer entsprechenden Lockerung der aktuellen Einschränkungen einhergehen würde.
Jetzt schlägt die Stunde der Antikörpertests
Das zutage gekommene Ergebnis ist nicht nur für Südtirol relevant. Die Anzahl der bereits infizierten Menschen mit Antikörpern und Immunglobinen ist nach wie vor unbekannt und könnte die Anzahl der bislang positiv auf das Virus getesteten Menschen tatsächlich um ein Vielfaches übersteigen.
Genau diese Information - also der Anteil der Menschen mit Antikörpern - wäre aber wichtig, um zu wissen, wo wir bei der Bekämpfung des Virus stehen und wie weiter vorzugehen ist.
Dass die Unsicherheit darüber trotzdem immer noch so groß ist, hat einen Grund: Bisher wurden vor allem aufwändige PCR-Tests (Abkürzung für Polymerase Chain Reaction) durchgeführt. PCR-Tests sind dafür geeignet, am Beginn einer Epidemie Erkrankte und Virenträger zu identifizieren. Sie suchen im Körper nach dem Erbgut des Virus, nicht aber nach den Antikörpern - deshalb können sie auch nur die frisch Infizierten ausfindig machen. Diejenigen, deren Körper das Virus bereits erfolgreich bekämpft und Antikörper entwickelt hat, bleiben dabei unentdeckt.
Je weiter eine Pandemie fortschreitet, desto wichtiger wird es aber, gerade diejenigen zu quantifizieren, die bereits über eine effektive Immunabwehr verfügen. Dafür gibt es die sogenannten Antikörpertests, die im Blut der getesteten Person nach den spezifischen Antikörpern suchen. Genau diese Art von Tests wurde auch in St. Ulrich durchgeführt. Das Problem dabei: Antikörpertests sind oft längst nicht so zuverlässig, wie ihre Hersteller es behaupten.
Zweifel am "Grödner Wunder"
Mehr als skeptisch ist auch der Immunologe und Forscher an der TUM Bernd Gänsbacher, der in den letzten Wochen für Südtirols verängstigte Öffentlichkeit so etwas wie Christian Drosten in Deutschland war. Rastlos beantwortete er seit Ausbruch der Pandemie in Radio und Fernsehen die Fragen verunsicherter Bürger und gab fast täglich Interviews.
Die Aussagekraft der Testungen in St. Ulrich stellt er massiv infrage. Die Antikörpertests, die dort verwendet worden sind, seien vom Hersteller ScreenItalia nämlich nicht auf Kreuzreakitivität gegen Antikörper, die von Erkältungs-Coronaviren verursacht werden, kontrolliert worden. In anderen Worten: Der Test schlägt nicht nur bei Antikörpern gegen das neuartige Coronavirus positiv an. Auch Personen, die Antikörper gegen andere Coronaviren besitzen, können fälschlicherweise als immun identifiziert werden. "Es ist sehr wahrscheinlich, dass der hohe Anteil positiver Testergebnisse auch auf eine ganz gewöhnliche Grippewelle, die von den Erkältungs-Coronaviren verursacht wurde, zurückzuführen ist", sagt Gänsbacher gegenüber Telepolis.
Dass der Test eine Unsicherheit birgt, gibt der Hersteller ScreenItalia - im Unterschied zu vielen anderen Herstellern - selbst zu. Warum Grödner Hoteliers nichtsdestotrotz am Test festhalten, darüber kann sich Gänsbacher nur wundern: "Der Verdacht liegt nahe, dass es mit der Sorge um die kommende Sommersaison zu tun hat."
Der Immunologe weist außerdem darauf hin, dass bei vergleichbaren Testungen - wie auch in der umstrittenen Studie aus Heinsberg - höchstens 15 bis 18 Prozent der Bevölkerung als immun getestet worden seien. Doch auch hier konnte die Kreuzreaktivität der Tests nicht ausgeschlossen werden. "Die höchsten Werte aus wissenschaftlich haltbaren Stichproben bewegen sich um 8 Prozent", sagt Gänsbacher. "Es ist deshalb nicht davon auszugehen, dass die Grödner Gemeinde St. Ulrich plötzlich Weltmeister in Sachen Immunität ist."
Die Unzuverlässigkeit vieler Antikörpertests, die zurzeit auf dem Markt sind und angeblich Antikörper gegen SARS-CoV-2 feststellen sollen, liegt in erster Linie an den Profitabsichten ihrer Hersteller. Nachdem staatliche Behörden weltweit schon vor Wochen zur vermehrten Produktion von Antikörpertests aufgerufen haben, fand in der Pharmaindustrie ein regelrechtes Wettrennen um die Herstellung der Tests statt. Mittlerweile gibt es 50 bis 70 Unternehmen, die Antikörpertests anbieten.
Die meisten dieser Tests werden von öffentlichen Arzneimittelbehörden wie der amerikanischen FDA (Food and Drug Administration) im Schnellverfahren EUA (Emergency Use Authorization) zertifiziert, wobei die Hersteller die Kontrolltests kurzerhand selbst durchführen. Bislang gibt es deshalb noch keinen einzigen hundertprozentig sicheren Test. Immerhin könne davon ausgegangen werden, dass sich das bald ändern wird, meint aber Bernd Gänsbacher. Zuverlässige Antikörpertests seien nämlich schlicht zu wichtig.
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