Habermas sucht Kerneuropa

Von wegen kritische Theorie - der Frankfurter Philosoph betreibt Realpolitik

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Soviel Habermas war nie. Im letzten viertel Jahr hat er, mit ziemlicher Sicherheit ein persönlicher Rekord, vier Mal in den so genannten politischen Diskurs der Republik, also das allgemeine Palaver, eingegriffen. Mitte April verkündet er, dass "die normative Autorität Amerikas in Trümmern" liege und er, anders als noch 1999, die kriegerische Durchsetzung der Menschenrechte ohne UN-Mandat für falsch halte.

Ende Mai schwärmte er, zusammen mit seinem früheren Antipoden Jacques Derrida, von der Bildung eines "avantgardistischen Kerneuropa", das eine "Sogwirkung" auf den Rest des Kontinents haben würde.

Ende Juni disputierte er mit dem schwarzen Wolfgang Schäuble in der Berliner Akademie der Künste, wovon gleich noch die Rede sein wird. En passant gewährte der ansonsten pressescheue Frankfurter noch den rot-rosa-grünen Blättern für deutsche und internationale Politik ein längeres Interview. Eine rechts, eine links, eine fallen lassen - was wird denn da zusammengehäkelt? Ein politisches Projekt? Eine paneuropäische Burschenschaft?

Der Frankfurter Professor wird in der Regel als letzter Bannerträger der von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer begründeten Kritischen Theorie verstanden. Ein Missverständnis, wie es sich aktuell wieder einmal zeigt. Adorno und Horkheimer hatten sich ihren revolutionären Impetus immer dort bewahrt, wo sie negativistisch waren, also das Bestehende einer illusionslosen Abrechnung unterzogen. Ihr Motto: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Habermas formulierte dagegen schon immer Verbesserungsvorschläge für den Status Quo, die dem jeweiligen SPD-Grundsatzprogramm nur um wenige Jahre voraus waren. Im aktuellen Fall hinken sie der Realpolitik sogar hinterher: Er und Derrida plädieren für den "in Nizza beschlossenen Mechanismus der verstärkten Zusammenarbeit" einiger weniger EU-Staaten, die ohne den zögerlichen Rest "mit einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik den Anfang ... machen" sollten. Anstelle also, rein destruktiv, einer Abkoppelung von der US-Kriegsmaschine das Wort zu reden, schlägt Habermas, ganz konstruktiv, den Aufbau eines kerneuropäischen Alternativ-Imperialismus vor.

Die Initiative hat freilich auch einen gewissen Charme. Sie setzt das zu schaffende Europa nicht kulturkämpferisch (und damit tendenziell rassistisch) von der Neuen Welt, dem Slawismus oder Islamismus ab. Die Identität von Habermas' Wunsch-Europa ist nicht christlich, wie es Stoiber und Berlusconi wollen, sondern etwas "Konstruiertes von Anfang An". Jeder zwischen Dublin und Wladiwostok, zwischen Grönland und Anatolien kann bei diesem Konstrukt mitmachen, der sich zu folgenden Prinzipien bekennt:

Säkularisierung, Staat vor Markt, Solidarität vor Leistung, Technikskepsis, Bewußtsein für die Paradoxien des Fortschritts, Abkehr vom Recht des Stärkeren, Friedensorientierung aufgrund geschichtlicher Verlusterfahrung

(so die Zusammenfassung der "Blätter"-Redaktion, der Habermas nicht widerspricht)

Eine solche europäische Identität wäre also das Resultat eines politischen Verständigungsprozesses, der allerdings - siehe 1789 - von einem Aufstand getragen sein müsste, welcher das politische Subjekt dieses Staatskonstruktes im Kampf gegen das Ancien régime überhaupt erst hervorbringt. Die französische Nation wurde in der französischen Revolution geboren, und deren Träger war ein politisches Bündnis unter Führung des Dritten Standes. Mit der europäischen Nation wird es sich analog verhalten, allerdings würde die Führung beim Vierten Stand, bei der Arbeiterschaft, liegen. Davon spricht Habermas freilich nicht. Wie soll dann aber sein (Kern-)Europa überhaupt eine Identität entwickeln? Vielleicht nicht nach dem Modell der französischen, sondern der deutschen Nationwerdung?

Die derzeitige EU hat viele Gemeinsamkeiten mit dem Deutschen Bund, einer losen Föderation von Preußen, Österreich und ein paar Dutzend Kleinstaaten, gegründet 1815 auf dem Wiener Kongress. Nach 1850 formierte Preußen in diesem ineffektiven Verbund einen avantgardistischen Kern, den Norddeutschen Zollverein. Das war der Fötus des Deutschen Reiches, doch bis zu seiner Geburt waren noch zwei Gewaltakte nötig: der Krieg der preußischen Koalition gegen Österreich mit dem Sieg bei Königsgrätz (1866) und der gegen Frankreich mit dem Sieg bei Sedan (1871).

Den 15. Februar 2003, als gleichzeitig Millionen in allen Metropolen für den Frieden demonstrierten, sieht Habermas "als Signal für die Geburt einer europäischen Öffentlichkeit". Selbst wenn das stimmt, gibt es nun zwei Wege der weiteren Entwicklung: Entweder die Konfrontation der embryonalen Nation mit dem inneren Feind, also dem Ancien régime, also dem Kapitalismus in Europa; oder ihre Herausbildung durch das Kräftemessen mit äußeren Feinden. Wer, wie Habermas und Derrida, nirgends von Wirtschaftspolitik spricht, sondern die EU-Avantgarde über eine gemeinsame Außen- und Militärpolitik schaffen möchte, favorisiert letzteres. Bismarck lässt grüßen.

Natürlich sind es nicht diese Aspekte, für die Habermas in Deutschland kritisiert wird, sondern seine im Grunde richtige Absage an das Militärbündnis mit Washington. In der Berliner Akademie der Künste schleuderte der polnische Philosoph Zdislaw Krasmodebski seinem Frankfurter Kollegen ein apodiktisches "Besser mit Amerika für den Krieg als mit Russland und China für den Frieden" entgegen. Ähnlich warnt Hans-Ulrich Wehler, Habermas' Bündnispartner im Historikerstreit gegen die Geschichtsrevisionisten Mitte der achtziger Jahre, in seiner Replik ("FAZ", 27.06.2003) Europa vor einer "überaus gefährlichen Verstrickung mit seinen russischen und chinesischen Alliierten".

Der Emeritus mahnt mit scheppernder Syntax:

Ist es so schwer, in den verfliegenden Dunstwolken eines antiamerikanischen Pazifismus der nüchternen Einsicht in eine dauerhafte Interessenskonstellation, die Europa, namentlich Deutschland, mit Amerika verbindet, in der praktischen Politik wieder zu folgen?

Noch schlimmer bei Wehler ist allerdings, dass er nur das "protestantische und römisch-katholische Europa" gelten lassen will. Nicht europakompatibel seien Weißrussland, die Ukraine, Moldavien, Russland und die Türkei - da wird einigen Lieblingsfeinden von Bush, Rumsfeld und Co. schon der Fehdehandschuh der EU hingeworfen.

Vor dieser Kritik weicht Habermas zurück und gibt damit auch noch die positiven Seiten seiner Initiative auf. So zitierte er bei der Podiumsdiskussion mit Schäuble zustimmend lange Sätze aus einer außenpolitischen Grundsatzerklärung der CDU von Ende April, welche eine weitgehende Verrechtlichung der internationalen Beziehungen - Habermas' altes Steckenpferd, das er für Prinz Joschka aufgezäumt hat - fordert.

Höflich ließ er unter den Tisch fallen, dass diese Erklärung das Nato-Bündnis für "unverzichtbar" erklärt. "Daher ist jeder Versuch, Europa gegen die USA zu einen, zum Scheitern verurteilt", heißt es darin explizit. Und noch weitergehender:

Die Fragen, die der neuen amerikanischen Sicherheitsstrategie zugrunde liegen, müssen auch von uns aufgenommen ... werden.

Diese Sicherheitsstrategie aber beinhaltet das Recht auf Präventivkriege, da - wieder christdemokratischer O-Ton - das "Recht auf Selbstverteidigung einschließlich Nothilfe und Interventionsverbot zur Sicherung von Frieden und Stabilität nicht mehr ausreichen."

Dies ist das dirty little secret, das Habermas Kerneuropa-Konzept mit dem von Schäuble gemein hat: die militärische Komponente ist nicht nur nicht ausgeschlossen, sie soll sogar aggressiver werden. "Der Pazifismus reicht als belastbare Legitimationsressource (für die Schaffung Europas) nie und nimmer aus", kritisiert Wehler und zielt auf Habermas. Der aber sieht das genauso - das ist das Problem.