Hände weg vom Bundesverfassungsgericht

Straßenschild des Bundesverfassungsgerichts in Deutschland

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Das höchste Gericht soll besser geschützt werden. Ampel und Union wollen zentrale Regelungen ins Grundgesetz schreiben. Doch wer schützt hier eigentlich wen wovor? Gastbeitrag.

Im Februar hatte Bundesinnenminister Nancy Faeser (SPD) ein Paket mit "13 Maßnahmen gegen Rechtsextremismus" vorgelegt, um den von ihr im März 2022 initiierten Aktionsplan gegen Rechtextremismus zu ergänzen. Um auf neue Entwicklungen geeignet zu reagieren, müsse die Demokratie widerstandsfähiger gemacht werden.

"Justiz, die freie Presse und die demokratischen Institutionen", vor allem aber "das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) als wichtigsten Hüter der Verfassung" müssten vor Angriffen autoritärer und rechtsextremistischer Kräfte geschützt werden, so Faeser.

Daher sei geplant, "die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts stärker gegen die Einflussnahme demokratiefeindlicher Kräfte abzusichern", indem "die zentralen Regelungen zu Organisation und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts in das Grundgesetz aufgenommen werden".

Politisierung von Verfassung und Justiz

Nachdem die gemeinsam von den ehemaligen Regierungsfraktionen und der CDU/CSU dazu ausgearbeiteten Gesetzentwürfe im Oktober in erster Lesung im Bundestag beraten wurden, treiben SPD und Grüne das Gesetzgebungsverfahren nun trotz der geplatzten Koalition weiter voran.

Es sei sehr wichtig, so Faeser, dass "diese gemeinsam mit der Union formulierten absolut notwendigen Änderungen … zum Schutz unserer Demokratie" noch in dieser Wahlperiode beschlossen würden.

Die Chance, das Gesetz auch bei vorgezogenen Neuwahlen doch noch durchzubringen, besteht, denn in der Bundestagsdebatte zur vorgesehenen Änderung des Grundgesetzes und des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes gab es große Zustimmung aus den Reihen von Union, Linken und Ampelfraktionen. Das BSW äußerte sich im Bundestag nicht, so dass sich nur die AfD gegen die Gesetzesänderung aussprach.

So erklärte der SPD-Bundestagsabgeordnete Dirk Wiese, die Gesetzesänderungen seien zur Stärkung der "Abwehrkräfte des Bundesverfassungsgerichts" erforderlich. Clara Bünger (Linke) begründete ihre Zustimmung mit den Vorgängen um die Wahl des thüringischen Landtagspräsidenten.

Hier zeige sich, was passiere, wenn die AfD in Machtpositionen gelange. Demokratische Grundsätze würden ignoriert, zentrale Institutionen, deren Aufgabe es sei, die Demokratie zu schützen, würden attackiert oder sollten "gleich ganz abgeschafft werden".

Die Verfassung gerate "zum bloßen Spielball parteipolitischer Interessen" und es zeige sich, dass die Rechten zwar ständig von "Entpolitisierung der Justiz" redeten, tatsächlich wollten sie jedoch "eine Justiz, die in ihrem Sinne entscheidet" und gezielt gegen ihre politischen Gegner vorgehe. Der AfD gehe es also nicht um eine Entpolitisierung, sondern "um eine gefährliche Politisierung der Justiz", so Bünger.

Auch der inzwischen zurückgetretene Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) begründete die Gesetzesentwürfe mit der Notwendigkeit, einer drohenden Politisierung vorzubeugen.

Sonst könne man in die gleiche missliche Lage geraten wie einige osteuropäische Länder, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zu liberalen Demokratien werden wollten. Damit spielte er auf Polen und Ungarn an, wo seiner Einschätzung nach "perfide Taktiken" angewendet wurden, "um Verfassungsgerichte an die Kette zu nehmen, an den Rand zu drängen und ihre Unabhängigkeit infrage zu stellen".

Eine andere Lesart

Mit den nun vorliegenden Gesetzesentwürfen zur Neuregelung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes gelingt deren Befürwortern nach Ansicht des Verfassers dieses Beitrags jedoch nicht etwa die Sicherung der von Buschmann und den anderen Bundestagsrednern geforderten, Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts gegenüber politischer Einflussnahme.

Vielmehr dienen die Gesetzesänderungen gerade dazu, den politischen Einfluss der Mitte und der sie vertretenden politischen Kräfte auf das Verfassungsgericht abzusichern und sogar auszuweiten.

Dies geschieht erstens durch Festschreibung der heutigen Rolle und Funktion des Bundesverfassungsgerichts als quasi unabänderlich, indem man es noch stärker als bisher vor Veränderungen durch einfache politische Mehrheiten schützt.

Anderseits erweitern CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne ihren gemeinsamen politischen Einfluss, indem sie die Möglichkeit schaffen, bei der Wahl der Verfassungsrichter mit weniger qualifizierten Mehrheiten die ihnen genehmen Bundesverfassungsrichter durchzusetzen, wenn sie mit sehr starken politischen Minderheiten konfrontiert sind.

Anstatt bei der Besetzung des mächtigen Bundesverfassungsgerichts in Anbetracht wachsender politischer Minderheiten auf politischen Ausgleich und Kompromiss zu setzen, schirmt man die Institutionen der repräsentativen Demokratie diesen gegenüber immer stärker ab.

So betreibt man genau das, was man dem politischen Gegner vorwirft: die Politisierung des Verfassungsgerichts und der Justiz.

Schutzwall gegen Populisten

Mit der von Bundestagsfraktionen von SPD, Grünen, FDP und CDU/CSU angestrebten verfassungsrechtliche Absicherung des Bundesverfassungsgerichts sollen zentrale Strukturvorgaben vom einfachen Gesetzesrecht, das Veränderungen mit einfachen Mehrheiten erlaubt, auf die Ebene der Verfassung gehoben werden.

Die betrifft laut einem Gemeinsamen Erläuterungspapier der Fraktionen von SPD, Grünen, FDP und CDU/CSU insbesondere Regelungen zur Wahl der Verfassungsrichter sowie die Bindungswirkung von Urteilen des Bundesverfassungsgerichts für alle Verfassungsorgane, also vor allem den Bundestag und den Bundesrat.

Indem Änderungen zukünftig also nur mit Zwei-Drittel-Mehrheit möglich sein sollen, wird das Bundesverfassungsgericht noch stärker als bisher vom Einfluss der Wähler und der von ihnen gewählten Repräsentanten abgeschirmt und dessen Funktion als Wächter über die Politik zementiert. Politische Strömungen könnten dann nicht mehr wie bisher mit einfacher Mehrheit in Ordnung und Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts eingreifen.

Im gleichen Zug wird das Bundesverfassungsgericht jedoch politisiert, indem bei der Wahl der Verfassungsrichter auf politisch starke Minderheiten, die mehr als ein Drittel der Wähler repräsentieren, zukünftig keinerlei Rücksicht genommen werden muss.

Um dies zu gewährleisten, werden nun gesetzliche Strukturen geschaffen, sodass das Recht zur Wahl der Verfassungsrichter vom Bundestag auf den Bundesrat und auf dem umgekehrten Weg übergeht, sofern in einem dieser Wahlorgane bei der Richterwahl nicht die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit erreicht wird.

So stellen CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne sicher, dass sie, falls sie in einem der beiden Wahlorgane die gemeinsame Zwei-Drittel-Mehrheit verlieren sollten, dennoch weiterhin alleine bestimmen können, wer Richter am Bundesverfassungsgericht wird.

Es geht um Einfluss

Mit diesem Kniff können sie die im Jahr 2018 getroffene Vereinbarung fortsetzen, in der sie die Besetzung der Verfassungsrichterposten im Proporz von jeweils drei für CDU/CSU und SPD sowie jeweils einen für FDP und Grüne unter sich aufgeteilt haben.

Sollte es also so weit kommen, dass sich die Wähler verstärkt anderen Parteien zuwenden, wollen sie durch eine mögliche Ausgrenzung der Opposition offenbar sicherstellen, dass sie auch weiterhin gemeinsam alle 16 Verfassungsrichter bestimmen können.

Sollten CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne weder im Bundestag noch im Bundesrat eine gemeinsame Zwei-Drittel-Mehrheit erreichen, können sie dennoch recht sicher sein, dass ihr Einfluss auf das Bundesverfassungsgericht erhalten bleibt.

Einerseits sieht das Bundesverfassungsgerichtsgesetz für den Fall, dass die von Bundestag und Bundesrat vorgeschlagenen Kandidaten nicht die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit erreichen, schon heute ein Vorschlagsrecht des Plenums des Bundesverfassungsgerichts bei der Richterwahl vor.

Somit spielen die Vorschläge von Verfassungsrichtern, die alle ursprünglich durch Tickets von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen zu Amt und Würden gelangt sind, eine entscheidende Rolle, um die Wahlhürde zu überwinden.

Andererseits halten sie sich mit der jetzt angestrebten Gesetzesänderung ein Hintertürchen offen, falls die Zwei-Drittel-Mehrheit in beiden Wahlorganen verloren gehen sollte. Die Vorschrift, wonach die Bundesverfassungsrichter mit Zwei-Drittel-Mehrheit gewählt werden müssen, heben sie nicht auf die Ebene des Grundgesetzes, sondern belassen sie im Bundesverfassungsgerichtsgesetz.

So lässt sie sich jederzeit mit einfacher Mehrheit kippen, indem beispielsweise festgelegt würde, dass Bundesverfassungsrichter mit einfacher Mehrheit gewählt werden.

Die Sperrminorität

Eine sinngemäß gleiche Änderung hatte der Verfassungsrechtler Maximilian Steinbeis vor einigen Monaten für Thüringen vorgeschlagen, da zu erwarten war, dass die AfD ein Drittel der Sitze im Landtag auf sich vereinen kann, was nun tatsächlich eingetreten ist.

Die nun entstandene und sogenannte "Sperrminorität" der AfD können die anderen Parteien auch dort problemlos umgehen, indem sie mit einfacher Mehrheit den §3 des Thüringer Verfassungsgerichtshofgesetzes zur Wahl des Präsidenten und der weiteren Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs entsprechend ändern.

Majorisieren statt diskutieren

Die öffentlich propagierte und kaum kritisch beleuchtete Vorstellung, mit der Abkehr von Zwei-Drittel-Mehrheiten bei der Wahl der Verfassungsrichter sollten "Blockaden" verhindert und "Sperrminoritäten" ausgehebelt werden, widerspricht jedoch dem Geist der Verfassung.

Denn in den Gesetzen kommt die Absicht zum Ausdruck, dass die Besetzung der für das demokratische Gefüge unseres Rechtsstaats so mächtigen Positionen, wie die der Verfassungsrichter, auf eine breite Mehrheit gestützt ist.

Die Befürworter der Abkehr von diesen Zwei-Drittel-Mehrheiten wollen für den Fall, dass sie einer fast gleichstarken Minderheit gegenüberstehen, nicht mehr verpflichtet sein, auf diesen politischen Gegner zugehen und mit diesem Kompromisse schließen zu müssen. Sie bevorzugen es, diesen zu majorisieren, indem sie die hinter ihm stehenden Wähler durch ihre Stimmenmehrheit besiegen.

Politische Gegnerschaft wird durch diese Herangehensweise zur Feindschaft. Das wiederum wird von vielen politisch führenden Köpfen gezielt befördert, indem sie dem Gegner vorwerfen, sich außerhalb des gesellschaftlichen Grundkonsenses zu bewegen.

Dazu dient die Eskalation des SPD-Parteichefs Lars Klingbeil, der – nach dem schlechten Abschneiden seiner eigenen Partei bei der Europawahl – die Bundesvorsitzende der AfD, Alice Weidel und deren gesamte Partei als "Nazis" beschimpfte, diesen Vorwurf am Tag darauf sogar verteidigte und weiter nachtrat.

Die Förderer dieser Feindschaft attackieren jedoch nicht nur die politischen Repräsentanten der Wähler, sondern diese gleich mit. Anton Hofreiter (Grüne), Vorsitzender des Europaausschusses im Bundestag, folgerte aus dem Umstand, dass die allermeisten Wähler der AfD keine einfachen Protestwähler mehr seien, sondern "etwa zwei Drittel der Wählerinnen und Wähler der AfD es einfach für richtig finden, was die AfD sagt", dass ein "erheblicher Teil" der AfD-Wähler über ein verfestigtes rechtsradikales Weltbild verfüge.

Die Einschätzung, wonach dem politischen Gegner und dessen Wählern, etwa wegen vermeintlich verfestigter und antidemokratischer, rassistischer oder gar neonazistischer Auffassungen, nicht mehr durch politische Diskussion beizukommen ist, rechtfertigt die resolute Bekämpfung des politischen Gegners als Feind.

So scheint es legitim, die Institutionen der Demokratie und den gesamten demokratischen Prozess einschließlich der Meinungsbildung in öffentlichen Diskussionen vom Einfluss des Gegners so weit wie irgend möglich abzuschirmen.

Erstarrung des politischen Prozesses

Dies führt jedoch zu einer verheerenden Erstarrung des politischen Prozesses, der davon lebt, dass die Bürger auf die politische Entwicklung Einfluss nehmen, indem sie an einem offenen Diskurs und einem Schlagabtausch um die besseren Argumente und Ideen teilhaben.

Dann können sie ihre Meinung möglichst frei von fremder Einflussnahme bilden und durch sich verändernde Mehrheiten politische Veränderungen herbeiführen. Es ist eine Grundessenz der Demokratie, dass politische Minderheiten im Rahmen eines freien, gleichberechtigten und ergebnisoffenen Prozesses der politischen Erkenntnis- und Willensbildung zu zukünftigen Mehrheiten werden können.