Häusliche Gewalt und Corona-Lockdowns: Ursache nicht erkannt?
Häusliche Gewalt hat während der Lockdowns deutlich zugenommen. Das Münchner ifo-Institut zeigt, dass die polizeiliche Kriminalstatistik nicht das ganze Ausmaß wiedergibt
Wiederholt wurde in den letzten zwei Jahren der Verdacht geäußert, während der Corona-Lockdowns sei es zu einem Anstieg der häuslichen Gewalt gekommen. Selbsthilfegruppen für Frauen und Beratungsstellen für häusliche Gewalt berichteten weltweit, ihre Hilfen seien zwischen 25 und 80 Prozent öfter in Anspruch genommen worden.
Und tatsächlich zeigt auch der Bericht des Bundeskriminalamtes (BKA) für das Jahr 2020 einen Anstieg für Deutschland. Ob er allerdings auf die Corona-Lockdowns zurückzuführen ist, geht aus diesen Daten nicht klar hervor; denn sie zeigen einen kontinuierlichen Anstieg seit 2016.
In den letzten fünf Jahren stieg demnach die Zahl der erfassten Opfer um mehr als elf Prozent auf 148.031 Personen. Zu über 80 Prozent waren die Opfer Frauen – aber das BKA stellt fest, dass Männer auch zunehmend zu Opfern werden. Ihr Anteil an allen Opfern stieg von 18,1 Prozent im Jahr 2016 auf 19,5 Prozent im Jahr 2020.
Das Münchner ifo-Institut hat nun eine Studie vorgelegt, nach der die Fälle häuslicher Gewalt während der Corona-Lockdowns stark angestiegen sind. Die Forscher gingen davon aus, dass die amtliche Kriminalstatistik den Umfang des Problems nicht umfassend abbildet. Zum Fokus auf die Kriminalstatistik schreiben sie:
Das zentrale Problem dieser Messmethode ist aber, dass die tatsächliche Rate häuslicher Gewalt nicht mit der Rate der polizeilich erfassten Gewalttaten übereinstimmt, da nur ein Teil der Fälle zur Anzeige gebracht wird. Zudem ist anzunehmen, dass Covid-19 und die damit verbundenen Lockdowns nicht nur die Häufigkeit von Gewalttaten, sondern auch das Anzeigeverhalten der Opfer beeinflusst hat. So haben Lockdowns auch dazu geführt, dass Betroffene mit ihren gewalttätigen Partnern zu Hause isoliert sind und so ihre Möglichkeit, Gewalttaten bei der Polizei anzuzeigen, stark eingeschränkt ist.
Der Einfluss der Covid-19-Pandemie auf häusliche Gewalt
Neuer Index erfasst mehr Fälle
Die ifo-Experten haben deshalb einen neuen Index erarbeitet, der auf Suchen nach bestimmten Begriffen im Internet beruht. Als Grundlage dafür dienten Daten aus der britischen Hauptstadt London. Mithilfe des neuen Index schätzen die Forscher, dass im März 2020 die Rate der häuslichen Gewalt in London um gut 40 Prozent angestiegen ist.
Die ifo-Experten wählten 35 Suchbegriffe zur häuslichen Gewalt aus und analysierten, wie oft diese in einem Zeitraum von fünf Jahren über die Suchmaschine Google aufgerufen wurden. Die Ergebnisse verglichen sie mit den täglichen Daten der London Metropolitan Police zu Anzeigen wegen häuslicher Gewalt.
Auf diese Weise konnten sie feststellen, dass beide Datensätzen "dieselbe zeitliche Variation der Häufigkeit von Gewalttaten widerspiegeln" – was allerdings nur bis zum ersten Lockdown im Jahr 2020 zutrifft. Daraus schließen sie, dass der mit dem ifo-Index "gemessene Anstieg häuslicher Gewalt nach der Einführung der Lockdown-Maßnahme [...] wesentlich größer und stärker als der Anstieg der polizeilich registrierten Delikte" war.
"Dieser Effekt ist sieben- bis achtmal stärker als der durch Polizeidaten gemessene Anstieg", heißt es zu der Studie. Für die kalifornische Metropole Los Angeles kamen die Forscher zu einem ähnlichen Ergebnis.
Weil deutlich wurde, dass die Polizeistatistik zu ungenau ist, schlagen die Forscher, vor, dass bei der Bewertung von häuslicher Gewalt in Zukunft weitere Quellen hinzugezogen werden; dass etwa ihr Ansatz berücksichtigt wird.
Den Unterschied zwischen offizieller Kriminalstatistik und den Erfahrungen von Hilfsorganisationen machte im Dezember auch der Weiße Ring deutlich. Während die Polizei für das Jahr 2020 einen Anstieg partnerschaftlicher Gewalt im Vergleich zum Vorjahr von 4,9 Prozent verzeichnete, nahm die Opferschutzorganisation Der Weiße Ring einen Anstieg von etwa zehn Prozent war. Seit 2018 betrage der Anstieg sogar 20 Prozent, erklärte im Dezember Jörg Ziercke, Bundesvorsitzender des Weißen Rings, gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa).
"Die Prognose, dass häusliche Gewalt mit der Pandemie und dem Lockdown zunimmt und dass das mit einem Verzögerungseffekt deutlich wird, hat sich bestätigt", so Ziercke weiter. Einige Wochen nach den Lockdowns in den Jahren 2020 und 2021 sei der Trend sprunghaft nach oben gegangen. Das führte Ziercke darauf zurück, dass die Opfer dann wieder eher bereit waren, sich zu melden.
Aber das bedeute nicht, dass damit das ganze Ausmaß bekannt geworden sei. Angesichts "des ständigen Aufeinandersitzens in Lockdown-Phasen" habe sich das Dunkelfeld eher noch vergrößert. Mit anderen Worten: Nach wie vor werden viele Fälle auch von Hilfsorganisationen nicht registriert.