"Halt ze German advance"

Seite 3: Was kommt nach der EU?

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Objektiv betrachtet - jenseits der bornierten machtpolitischen Kalküle der nationalen Staatsapparate - eskalieren in der gegenwärtigen Systemkrise auch die Widersprüche zwischen den partikularen und den globalen Momenten der spätkapitalistischen Vergesellschaftung. Regression und Expansion bedingen einander. Die Tendenz, in der Krise Zuflucht im nationalen Mief zu suchen, kontrastiert mit Versuchen, noch größere transnationale Zusammenschlüsse - wie TTIP oder Putins Eurasische Union - aufzubauen. Die Nation wird zunehmend als Kampfverband in der eskalierenden Krisenkonkurrenz wahrgenommen, wobei die Nation ja selber in Auflösung übergeht und von zunehmendem Separatismus - insbesondere wohlhabender Regionen - zerfressen wird (Konjunktur für Separatismus).

Zugleich wird der Aufbau neuer transnationaler Freihandelszonen massiv von den bedrängten Funktionseliten forciert. Vor allem beim TTIP handelt es sich um eine regelrecht extremistische Flucht nach vorn in einen total entsicherten Kapitalismus. Letztlich geht es den Architekten des TTIP beiderseits des Atlantiks darum, möglichst viele institutionelle, politische und soziale Sicherungen zu entfernen, um die stotternde Verwertungsmaschinerie wieder auf Touren zu bringen. Es geht um ein "Zurück in die Vergangenheit": Mühsam erkämpfte Rechte und Regelungen wie Kündigungsschutz, Tarifverträge, Mindestlöhne, Arbeitszeitbestimmungen, Mitbestimmungsrechte werden als Handelshemmnisse angesehen und dürften tendenziell bis auf den niedrigsten gemeinsamen Nenner geschliffen werden.

Deregulierung, Privatisierung und Beschränkung politischer Interventionsmöglichkeiten - diese Tendenzen des Neoliberalismus möchte TTIP auf die Spitze, ins Extrem treiben. Die totale "Entsicherung" des Spätkapitalismus droht vor allem in der Finanzsphäre. Insbesondere die Europäer drängten darauf, die transatlantischen Finanzmärkte wieder für all die tollen "Finanzprodukte" - in denen faule Hypotheken "verbrieft" wurden - zu öffnen, deren Handel nach dem Zusammenbruch der Immobilienblasen in den USA verboten worden waren, wie der Spiegel Anfang 2015 berichtete.

Die intendierte Aufhebung der Finanzmarktregulierung, die als Akt nackten Wahnsinns erscheint, ist innerhalb der Logik, die der Einrichtung der geplanten Freihandelszone zugrunde liegt, folgerichtig. Letztendlich beabsichtigt TTIP ja, in größerem Maßstab eine ähnliche Defizitkonjunktur zu stiften, wie sie die Euro-Zone in der ersten knappen Dekade ihres Bestehens in Gang gebracht hat. Zur Erinnerung: Nach der Einführung des Euro sind die Kreditkosten in der Peripherie Europas massiv gesunken.

Länder wie Spanien, Italien, Irland und Griechenland schienen auf einmal die Bonität der BRD zu haben, was die schuldenfinanzierten und mit allerlei Blasenbildungen einhergehenden "Wirtschaftswunder" in diesen Ländern erst ermöglichte - und der deutschen Exportwirtschaft bis zum Zusammenbruch dieser Defizitkonjunkturen Absatzmärkte sicherte. Eine ähnliche Defizitkonjunktur soll durch TTIP auf transatlantischer Ebene initiiert werden, um die Euro-Zone trotz des deutschen Spardiktats aus ihrer Deflation zu führen. Zu diesem Zweck müssen die lästigen Regulierungen geschleift werden, die nach dem Platzen der letzten Immobilien- und sonstigen Blasen erlassen wurden.

Flucht nach vorne

Die verheerenden ökonomischen und sozialen Folgen der letzten geplatzten Finanzblase in Europa sollen mittels einer neuen transatlantischen Finanzblasenbildung zumindest vorübergehend überwunden werden. Auf erweiterter transatlantischer Ebene soll ein ähnlicher Prozess angestoßen werden, wie er im Rahmen der Gründung und Expansion der Europäischen Union abgelaufen ist - und Europa bis zum Krisenausbruch ein knappes Jahrzehnt kreditfinanzierten Wachstums beschert hat.

Dieses Löschen mit Benzin ist, wie unbeabsichtigt immer, ein Grundelement neoliberaler Politik angesichts sich krisenbedingt zuspitzender ökonomischer Verwerfungen und Widersprüche. Seit der neoliberalen Wende Anfang der achtziger Jahre reagieren die Funktionseliten auf jeden Krisenschub mit einer Flucht nach vorn, die den Kapitalismus buchstäblich ins Extrem treibt und ihn langfristig immer gründlicher destabilisiert.

Konfrontiert mit der manifesten inneren Schranke der Kapitalverwertung, dem Abschmelzen der wertbildenden Lohnarbeit innerhalb der Warenproduktion, verfolgt die Politik bereits seit einiger Zeit jene Strategien, die in TTIP nur ihre extremistische Vollendung finden: Lohnkahlschlag, Privatisierungen, Deregulierung insbesondere der Finanzsphäre. Damit würde aber nur die neoliberale Politik ins Extrem getrieben, die schon bei der Etablierung der EU in den Mitgliedsländern durchgesetzt wurde.

Die EU ist tot, lang lebe das Transatlantische Freihandelsabkommen. TTIP würde letztendlich als eine postdemokratische und technokratische Super-EU fungieren, in der sich die USA und die EU wiederfänden. Der Neoliberalismus würde in der Diktatur des Sachzwangs seine Vollendung erfahren. Wobei die Realisierung dieses Projekts keineswegs gewiss ist, weil die Widersprüche und Interessensgegensätze zwischen Berlin, wo man Einflussverluste in der EU befürchtet, und Washington rasch zunehmen. Es ist ungewiss, ob eine solche Flucht nach vorne angesichts der global krisenbedingt zunehmenden Zentrifugalkräfte noch möglich ist.

Der Krisenprozess ist derzeit absolut offen, das System bewegt sich auf des Messers Schneide. Andrerseits droht der Zerfall der EU in ihre nationalen Bestandteile, in dysfunktionalen Neo-Nationalismus und rechtsextremen Wahn, die der Barbarei den Weg ebnen würden. Hierin gleicht die gegenwärtige Lage in Europa der Epoche der frühen 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, als die Weltwirtschaftskrise ab 1929 verstörend ähnliche Prozesse der Faschisierung in vielen europäischen Gesellschaften auslöste, wie sie jetzt - etwa in Gestalt der AfD - zu beobachten sind.

Die Genese wie die Krise der EU müssen somit als Etappen, als - spezifisch europäische - Folgen zunehmender Widerspruchsentfaltung im krisengeplagten Spätkapitalismus begriffen werden. In der aktuellen, manifesten Krise der EU zeichnen sich somit zwei systemimmanente Wege ab: die "Flucht nach vorn" in weitere transnationale und postdemokratische Zusammenschlüsse wie TTIP oder die Regression in Nationalismus und Chauvinismus - eventuell über das Schäublerische Kerneuropa-Konzept.

Es ist selbstverständlich unsinnig, sich hier für eine der beiden Optionen oder Streitparteien, die auch die Diskussion im Vorfeld des Referendums prägten, zu entscheiden - für die europäischen Technokraten oder die irrlichternden Neo-Nationalisten diverser Couleur. Dies käme einer Wahl zwischen krisenbedingter nationalistischer Regression, mit der historisch sattsam bekannten, typisch europäischen Tendenz zur genozidalen Barbarei, und dem autoritären, postnationalen und postdemokratischen Sachzwang-Staat gleich, wie er sich bei Durchsetzung von TTIP abzeichnet (und den Schäuble schon in der Peripherie der Eurozone realisierte).

Ein Ausweg aus der Dauerkrise ist hingegen nur durch die globale emanzipatorische Überwindung des in offenen Amoklauf übergehenden spätkapitalistischen Weltsystems denkbar. Denkbar, wohlgemerkt - nur leider angesichts des überschäumenden Nationalismus zumindest in Europa nicht gerade wahrscheinlich.

Von Tomasz Konicz erschien unlängst zu diesem Thema das Buch "Aufstieg und Zerfall des Deutschen Europa"

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