"Halt ze German advance"

Mit dem Sieg des Brexit-Lagers ist die deutsch dominierte EU in der gegenwärtigen Form de facto am Ende. Die Frage ist: Was kommt danach?

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Der Schock sitzt tief, die Märkte gehen auf Tauchstation, Entsetzen und Ratlosigkeit herrschen bei EU-Befürwortern und Eurokraten. Herr Steinmeier ist fassungslos, Sigmar Gabriel sieht einen "schlechten Tag für Europa". Jubel hingegen herrscht bei der europäischen Rechten. Die AfD-Berlin etwa ist mal wieder Stolz auf etwas, was sie nicht geleistet hat. Diesmal witzigerweise ausgerechnet darauf, "Europäer zu sein".

Bevor der rechtsextreme Wahn, der sich in solchen Zeilen überdeutlich andeutet, gänzlich um sich greift, könnte es durchaus lohnen, kurz inne zu halten und in einem Nekrolog der nun verschiedenen EU zu gedenken. Was war die EU eigentlich? Und wieso geriet das europäische Gemeinschaftswerk so plötzlich in die Krise, die nun offensichtlich letale Folgen nach sich zieht.

Bis vor wenigen Jahren schien die EU tatsächlich ein regelrechtes Erfolgsmodell zu sein, mit dem Europa seine vom endlosen Kriegen und massenmörderischem Nationalismus gekennzeichnete Vergangenheit endlich zu überwinden glaubte. Die immer enger geschmiedete Union verschaffte allen beteiligten Ländern handfeste sozioökonomische Vorteile, sodass der politische Integrationsprozess auf einem langfristigen Konjunkturaufschwung zu basieren schien. In Südeuropa, Irland oder Großbritannien herrschte aufgrund reger Bautätigkeit eine Hochkonjunktur samt Arbeitskräftemangel, während die Exportindustrie der Bundesrepublik massive Exportüberschüsse im Euroraum erwirtschaften konnte.

Mit dem Ausbruch der Eurokrise platzten die Illusionen eines harmonischen geeinten Europa, da es auch der breiten europäischen Öffentlichkeit klar wurde, dass die gute Konjunkturentwicklung in der EU zwischen Euroeinführung und Eurokrise auf Schuldenmacherei beruhte, es sich somit um eine Defizitkonjunktur handelte. Das "Europäische Haus" wurde spätestens seit der Euroeinführung auf einen beständig wachsenden Schuldenberg errichtet, der bis zum Platzen dieser Schuldenblase allen Beteiligten die Illusion verschaffte, an einem allgemein vorteilhaften Integrationsprozess beteiligt zu sein: Deutschlands Industrie erhielt dank des Euro Exportmärkte, während Europas Schuldenstaaten ihre kreditfinanzierte Defizitkonjunktur erfuhren.

Rückblickend betrachtet war die "europäische Integration" ein - spezifisch europäischer - Reflex auf die schwere Systemkrise (Die Krise kurz erklärt), in der sich das spätkapitalistische Weltsystem befindet, das auch auf globaler Ebene nur noch auf Pump aufrecht gehalten werden kann. Sobald die europäischen Schuldenblasen zu platzen begannen, wandelte sich auch die Stimmung in der einst so harmonischen EU, in der nun eine knallharte Krisenkonkurrenz einsetzte. Bei den nationalstaatlichen Auseinandersetzungen um die "europäische" Krisenpolitik ging es den Eurostaaten letztendlich darum, die Krisenfolgen auf andere Konkurrenten abzuwälzen.

Hierbei konnte sich bekanntlich Berlin durchsetzen und vermittels des Schäublerischen Sparwahns die Eurozone in eine Art wirtschaftspolitischen preußischen Kasernenhof verwandeln, auf dem die europäischen Krisenstaaten in eine perspektivlose Austeritätspolitik genötigt wurden. Die rücksichtslose Durchsetzung nationaler Interessen durch Schäuble und Merkel in der Eurokrise, die Deutschland auf Kosten der Eurozone zu einem Krisengewinner machten, verstärkte den nationalistischen Fallout, der im Gefolge der Eurokrise europaweit einsetzte. Berlins chauvinistische Krisenpolitik, die Schäuble und Merkel zur Errichtung einer machtpolitischen und sozioökonomischen Dominanz in der EU nutzten, hat somit die nationalistischen Absetzbewegungen aus der "Deutschen EU" befördert.

Der europäische Nationalismus hat längst "gewonnen"

Dies gilt nicht nur für Länder wie Polen, sondern auch für Großbritannien. In Deutschland wird die deutsche Dominanz in der Eurozone kaum thematisiert, sie spielte aber im britischen Brexit-Wahlkampf sehr wohl eine Rolle. "Halt ze German advance" In Anspielung an den berüchtigten deutschen Akzent warnten umstrittene Plakate der Eurogegner vor der erdrückenden Dominanz der BRD innerhalb der EU, mit der alte deutsche imperiale Ziele realisiert würden.

Der europäische Nationalismus hat eigentlich längst "gewonnen". Inzwischen gibt es die EU als eigenständigen relevanten Machtfaktor nicht mehr. Es gibt innerhalb der erodierenden Eurozone keine nennenswerte Machtinstanz, die eine "gesamteuropäische" Krisenpolitik betreiben würde. Stattdessen agieren hier zunehmend nationale Akteure und Allianzen, die ihre Interessen innerhalb der europäischen Strukturen und Institutionen durchzusetzen versuchen. Die europäische Krisenpolitik war somit Ausdruck einer Machtkonstellation - der ökonomischen Dominanz der BRD, die Berlin in einen politischen Führungsanspruch wandelte - in der Eurozone, und nicht Resultat einer kohärenten gesamteuropäischen Krisenpolitik.

Der ehemalige deutsche Chefvolkswirt der EZB, Otmar Issing, sprach die "Renationalisierung" der europäischen Krisenpolitik während der Auseinandersetzungen um die europäische Geldpolitik offen aus: "Das Problem ist, dass nationale Überlegungen eine Rolle spielen, wo sie keine Rolle spielen sollten", erklärte er. Sobald die EZB darüber entscheide, in welchem Land sie Staatsanleihen aufkaufe, werde die "Geldpolitik politisiert", empörte sich Issing weiter. Diese nationale "Politisierung" der europäischen Krisenpolitik wurde selbstverständlich durch das Berliner Spardiktat in dem rapide verendenden Europa ab 2011 initiiert - aber das sagte Issing nicht mehr.

Das "deutsche Europa" ist zerfallen

In diesen europäischen wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen, die zur Erosion der EU in der Eurokrise beitrugen, spiegelt sich nicht nur die bornierten nationalen Interessen, sondern auch die letale Systemkrise des Spätkapitalismus - die weder durch deutschen Sparsadismus, noch durch südeuropäische Gelddruckerei (EZB) überwunden werden kann. Vermittels der Auseinandersetzungen zwischen den Staatssubjekten wird der objektive Krisenprozess exekutiert. In den ausgebrannten institutionellen Höhlen der EU wird eine spezifische Form negativer Krisenkonkurrenz zwischen den Eurostaaten ausgetragen, bei der die Verlierer einen dauerhaften sozioökonomischen Abstieg erfahren. Mittels seiner europäischen Austeritätspolitik hat es Berlin vermocht, die Krisenfolgen auf die Peripherie abzuwälzen, während Deutschland als ein (verbliebenes) ökonomisches Zentrum gehalten werden konnte.

Objektiv betrachtet fand im Gefolge der Eurokrise ein Abschmelzen des sozioökonomischen Zentrums statt, während die Peripherie und die Elendsgebiete sich ausbreiteten. Deutschland hat streng betrachtet die Krisenkonkurrenz nicht "gewonnen", es ist nur "übrig geblieben". Die BRD ist der letzte verbliebene Passagier auf der sinkenden europäischen Titanic, die gerade dabei ist, vom Schicksal der Sowjetunion ereilt zu werden.

Dieser Kampf darum, wer im Verlauf des jüngsten europäischen Krisenschubs sozioökonomisch absteigen werde, ließ maßgeblich die nationalistischen Ressentiments und den unverhohlenen alten europäischen Chauvinismus hochkochen, die derzeit die EU zerfressen. Die EU stellt somit eine abgetakelte Fassade dar, hinter der längst anachronistische, regressiv-nationale Interessensgegensätze aufeinanderprallen. Wie gesagt: "Europa" als eigenständigen Machtfaktor gibt es längst nicht mehr, der Kontinent ist bereits zu dem jahrhundertealten national-imperialistischen business as usual zurückgekehrt - die europäischen Europahasser auf der rechten wie linken Seite des politischen Spektrums haben dies nur noch nicht bemerkt.

Die nicht gerade für ihre intellektuellen Kapazitäten bekannten Rechtsausleger Europas stilisieren hingegen diese abgetakelte und krisenzerfressene EU zu einer Art übermächtiger Chimäre, die weiterhin quasi diktatorisch die Völker Europas knechten würde. Sobald Brüssel zerschlagen sei, werde alles wieder gut werden, so die geschichtslose Idiotie der EU-Hasser, die Geschichtsbücher nur von weitem betrachtet haben dürften.

Dabei bestimmt nationale Machtpolitik schon längst wieder das Krisenschicksal Europas - und es ist zuvorderst deutsche Politik, die zielsicher den reaktionärsten Weg in die weitere Krisenentfaltung in der Eurozone wählte (Willkommen in der Postdemokratie). Das auf Verelendung und Sparwahn aufgebaute "Deutsche Europa", in dem in wirtschaftspolitischer Hinsicht nur noch "Deutsch gesprochen" (Volker Kauder) werden sollte, ist langfristig nicht stabilisierbar. Es wird durch diese zunehmenden inneren Widersprüche, die nationalistische Zentrifugalkräfte verstärken, zerrissen. Deutschlands Funktionseliten, angefacht von dem rechten Internet-Mob aus Pegida und AfD, haben diese chauvinistische Krisenpolitik eindeutig verbrochen. Sie tragen dafür die historische Verantwortung. Doch äußert sich in der subjektiven Entscheidung der deutschen Regierung eben auch - wie bereits angedeutet - ein objektiver Krisenprozess.

Negative Krisenkonkurrenz

Diese widersprüchlichen Tendenzen lassen sich nur erfassen, wenn der Krisenprozess aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet wird. Da ist zum einen die "subjektive" Ebene, auf der die einzelnen nationalstaatlichen Subjekte in der Eurokrise zu agieren versuchen, um ihre Machtmittel zu mehren. Und zum anderen gibt es die "objektive" Ebene, auf der sich die Krise des Kapitals entfaltet und den geopolitischen Akteuren in Form zunehmender innerer Widerspruche und "Sachzwänge" gegenübertritt.

Die Charakteristika des Krisenverlaufs in der Eurozone ergeben sich somit aus der Wechselwirkung zwischen den Entscheidungen der nationalen oder geopolitischen Subjekte (der Eurostaaten) und dem objektiven Krisenprozess, der sich hinter dem Rücken der Subjekte entfaltet und ihnen als Sachzwang gegenübertritt. Auch die mächtigsten Eurostaaten agieren auch als Getriebene der eskalierenden inneren Widersprüche des Kapitalverhältnisses.

Hieraus entspringt die für den Krisenprozess charakteristische Form der besagten "negativen" Krisenkonkurrenz, bei der die Eurostaaten ihre eigene Stellung im erodierenden Weltsystem nur noch auf Kosten des Abstiegs anderer Konkurrenzen eine Zeit lang halten können. Ein Paradebeispiel für diese negative neoimperialistische Krisenkonkurrenz stellt ja Deutschland als die flüchtige "Führungsmacht" des erodierenden Europa dar, die ihre dominierende machtpolitische Stellung durch eine gnadenlose Beggar-thy-neighbor-Politik gegenüber der Eurozone errang (Der Exportüberschussweltmeister), bei der die extremen deutschen Handelsüberschüsse die kollabierende europäische Peripherie in eine Art postmoderner Schuldknechtschaft gegenüber Berlin trieben.

Das "Geschäftsmodell" der Deutschland-AG beruht somit auf dem Export von Schulden - während sich die deutsche Öffentlichkeit beständig über die europäischen Auslandsschulden empört. Die Illusion einer heilen kapitalistischen Arbeitsgesellschaft in der BRD beruht somit auf dem sozioökonomischen Zerfall der Peripherie der Eurozone.

Deswegen ist beim (vorläufigen) "Krisengewinner" Deutschland keine dermaßen ausgeprägte Europaskepsis zu beobachten wie in anderen Euroländern. Der Glaube, von "Europa" fremdbestimmt zu sein, ist in der Bundesrepublik bei weiten nicht so stark ausgeprägt wie etwa in den Ländern, die als Krisenverlierer unter dem deutschen Sparwahn zu leiden haben. Dies ist einfach deswegen der Fall, weil Berlin seine Interessen vermittels der EU-Bürokratie weitgehend durchsetzen kann.

Gerade diese europäische Krisenkonstellation - Exportkonjunktur für die BRD, Austerität und Verelendung für die Peripherie - ist aber nicht langfristig aufrecht zu erhalten, da sie der Peripherie keine Perspektive bietet, außer der fortgesetzten Verelendung.

Was kommt nach der EU?

Objektiv betrachtet - jenseits der bornierten machtpolitischen Kalküle der nationalen Staatsapparate - eskalieren in der gegenwärtigen Systemkrise auch die Widersprüche zwischen den partikularen und den globalen Momenten der spätkapitalistischen Vergesellschaftung. Regression und Expansion bedingen einander. Die Tendenz, in der Krise Zuflucht im nationalen Mief zu suchen, kontrastiert mit Versuchen, noch größere transnationale Zusammenschlüsse - wie TTIP oder Putins Eurasische Union - aufzubauen. Die Nation wird zunehmend als Kampfverband in der eskalierenden Krisenkonkurrenz wahrgenommen, wobei die Nation ja selber in Auflösung übergeht und von zunehmendem Separatismus - insbesondere wohlhabender Regionen - zerfressen wird (Konjunktur für Separatismus).

Zugleich wird der Aufbau neuer transnationaler Freihandelszonen massiv von den bedrängten Funktionseliten forciert. Vor allem beim TTIP handelt es sich um eine regelrecht extremistische Flucht nach vorn in einen total entsicherten Kapitalismus. Letztlich geht es den Architekten des TTIP beiderseits des Atlantiks darum, möglichst viele institutionelle, politische und soziale Sicherungen zu entfernen, um die stotternde Verwertungsmaschinerie wieder auf Touren zu bringen. Es geht um ein "Zurück in die Vergangenheit": Mühsam erkämpfte Rechte und Regelungen wie Kündigungsschutz, Tarifverträge, Mindestlöhne, Arbeitszeitbestimmungen, Mitbestimmungsrechte werden als Handelshemmnisse angesehen und dürften tendenziell bis auf den niedrigsten gemeinsamen Nenner geschliffen werden.

Deregulierung, Privatisierung und Beschränkung politischer Interventionsmöglichkeiten - diese Tendenzen des Neoliberalismus möchte TTIP auf die Spitze, ins Extrem treiben. Die totale "Entsicherung" des Spätkapitalismus droht vor allem in der Finanzsphäre. Insbesondere die Europäer drängten darauf, die transatlantischen Finanzmärkte wieder für all die tollen "Finanzprodukte" - in denen faule Hypotheken "verbrieft" wurden - zu öffnen, deren Handel nach dem Zusammenbruch der Immobilienblasen in den USA verboten worden waren, wie der Spiegel Anfang 2015 berichtete.

Die intendierte Aufhebung der Finanzmarktregulierung, die als Akt nackten Wahnsinns erscheint, ist innerhalb der Logik, die der Einrichtung der geplanten Freihandelszone zugrunde liegt, folgerichtig. Letztendlich beabsichtigt TTIP ja, in größerem Maßstab eine ähnliche Defizitkonjunktur zu stiften, wie sie die Euro-Zone in der ersten knappen Dekade ihres Bestehens in Gang gebracht hat. Zur Erinnerung: Nach der Einführung des Euro sind die Kreditkosten in der Peripherie Europas massiv gesunken.

Länder wie Spanien, Italien, Irland und Griechenland schienen auf einmal die Bonität der BRD zu haben, was die schuldenfinanzierten und mit allerlei Blasenbildungen einhergehenden "Wirtschaftswunder" in diesen Ländern erst ermöglichte - und der deutschen Exportwirtschaft bis zum Zusammenbruch dieser Defizitkonjunkturen Absatzmärkte sicherte. Eine ähnliche Defizitkonjunktur soll durch TTIP auf transatlantischer Ebene initiiert werden, um die Euro-Zone trotz des deutschen Spardiktats aus ihrer Deflation zu führen. Zu diesem Zweck müssen die lästigen Regulierungen geschleift werden, die nach dem Platzen der letzten Immobilien- und sonstigen Blasen erlassen wurden.

Flucht nach vorne

Die verheerenden ökonomischen und sozialen Folgen der letzten geplatzten Finanzblase in Europa sollen mittels einer neuen transatlantischen Finanzblasenbildung zumindest vorübergehend überwunden werden. Auf erweiterter transatlantischer Ebene soll ein ähnlicher Prozess angestoßen werden, wie er im Rahmen der Gründung und Expansion der Europäischen Union abgelaufen ist - und Europa bis zum Krisenausbruch ein knappes Jahrzehnt kreditfinanzierten Wachstums beschert hat.

Dieses Löschen mit Benzin ist, wie unbeabsichtigt immer, ein Grundelement neoliberaler Politik angesichts sich krisenbedingt zuspitzender ökonomischer Verwerfungen und Widersprüche. Seit der neoliberalen Wende Anfang der achtziger Jahre reagieren die Funktionseliten auf jeden Krisenschub mit einer Flucht nach vorn, die den Kapitalismus buchstäblich ins Extrem treibt und ihn langfristig immer gründlicher destabilisiert.

Konfrontiert mit der manifesten inneren Schranke der Kapitalverwertung, dem Abschmelzen der wertbildenden Lohnarbeit innerhalb der Warenproduktion, verfolgt die Politik bereits seit einiger Zeit jene Strategien, die in TTIP nur ihre extremistische Vollendung finden: Lohnkahlschlag, Privatisierungen, Deregulierung insbesondere der Finanzsphäre. Damit würde aber nur die neoliberale Politik ins Extrem getrieben, die schon bei der Etablierung der EU in den Mitgliedsländern durchgesetzt wurde.

Die EU ist tot, lang lebe das Transatlantische Freihandelsabkommen. TTIP würde letztendlich als eine postdemokratische und technokratische Super-EU fungieren, in der sich die USA und die EU wiederfänden. Der Neoliberalismus würde in der Diktatur des Sachzwangs seine Vollendung erfahren. Wobei die Realisierung dieses Projekts keineswegs gewiss ist, weil die Widersprüche und Interessensgegensätze zwischen Berlin, wo man Einflussverluste in der EU befürchtet, und Washington rasch zunehmen. Es ist ungewiss, ob eine solche Flucht nach vorne angesichts der global krisenbedingt zunehmenden Zentrifugalkräfte noch möglich ist.

Der Krisenprozess ist derzeit absolut offen, das System bewegt sich auf des Messers Schneide. Andrerseits droht der Zerfall der EU in ihre nationalen Bestandteile, in dysfunktionalen Neo-Nationalismus und rechtsextremen Wahn, die der Barbarei den Weg ebnen würden. Hierin gleicht die gegenwärtige Lage in Europa der Epoche der frühen 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, als die Weltwirtschaftskrise ab 1929 verstörend ähnliche Prozesse der Faschisierung in vielen europäischen Gesellschaften auslöste, wie sie jetzt - etwa in Gestalt der AfD - zu beobachten sind.

Die Genese wie die Krise der EU müssen somit als Etappen, als - spezifisch europäische - Folgen zunehmender Widerspruchsentfaltung im krisengeplagten Spätkapitalismus begriffen werden. In der aktuellen, manifesten Krise der EU zeichnen sich somit zwei systemimmanente Wege ab: die "Flucht nach vorn" in weitere transnationale und postdemokratische Zusammenschlüsse wie TTIP oder die Regression in Nationalismus und Chauvinismus - eventuell über das Schäublerische Kerneuropa-Konzept.

Es ist selbstverständlich unsinnig, sich hier für eine der beiden Optionen oder Streitparteien, die auch die Diskussion im Vorfeld des Referendums prägten, zu entscheiden - für die europäischen Technokraten oder die irrlichternden Neo-Nationalisten diverser Couleur. Dies käme einer Wahl zwischen krisenbedingter nationalistischer Regression, mit der historisch sattsam bekannten, typisch europäischen Tendenz zur genozidalen Barbarei, und dem autoritären, postnationalen und postdemokratischen Sachzwang-Staat gleich, wie er sich bei Durchsetzung von TTIP abzeichnet (und den Schäuble schon in der Peripherie der Eurozone realisierte).

Ein Ausweg aus der Dauerkrise ist hingegen nur durch die globale emanzipatorische Überwindung des in offenen Amoklauf übergehenden spätkapitalistischen Weltsystems denkbar. Denkbar, wohlgemerkt - nur leider angesichts des überschäumenden Nationalismus zumindest in Europa nicht gerade wahrscheinlich.

Von Tomasz Konicz erschien unlängst zu diesem Thema das Buch "Aufstieg und Zerfall des Deutschen Europa"

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