Hamas-Gründer bei Raketenangriff in Gaza getötet

"Grenzenlose Vergeltung" angekündigt

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Die israelische Luftwaffe tötete am frühen Montagmorgen Scheich Ahmad Yassin und mindestens acht weitere Palästinenser in Gaza-Stadt. Der 66-jährige Scheich war der Mitbegründer der palästinensischen Islamischen Widerstandsbewegung (Hamas) und deren spiritueller Führer. Drei weitere Tote gehörten ebenfalls der Hamas an, die restlichen fünf waren Passanten. Zehntausende demonstrierten im Gazastreifen und im Westjordanland gegen den Angriff. In Tel Aviv tanzten und sangen Israelis vor Freude über die Tötung Yassins auf den Straßen. Das Militär hat die besetzten Gebiete aus Furcht vor einem palästinensischen Gegenanschlag vollständig abgeriegelt.

Mit der Attacke tötete Israel einen der größten politischen Führer der Palästinenser. Präsident Jassir Arafat verhängte eine dreitägige Trauer. Schulen und Geschäfte bleiben geschlossen. Die Hamas wird zwar nicht von der Mehrheit der Palästinenser unterstützt, aber als Teil des Widerstands gegen die israelische Besatzung respektiert. Strömungsübergreifend beteiligten sich auch die säkularen Organisationen an den Solidaritätskundgebungen.

In Ramallah sprach sich Sacher Habasch, Mitglied des PLO-Zentralkomitee für die Fatah, vor Tausenden von Menschen gegen das "israelische Verbrechen" und die "Einheit des Widerstands" aus. Alle Palästinenser seien durch die Ermordung Yassins getroffen. In allen größeren Ortschaften der besetzten Gebiete demonstrierten Palästinenser gegen den Anschlag. Kirchen läuteten ihre Glocken. Im südlichen Gazastreifen wurden zwei Demonstranten von Soldaten erschossen, in Nablus ebenfalls. In den israelischen Gefangenenlagern in der Negev-Wüste griffen die Gefangenen ihre Bewacher an. In Tel Aviv attackierte ein junger Palästinenser drei Israelis mit einer Axt. Und am israelischen Grenzübergang Eres zum Gazastreifen landeten Kleinraketen, vermutlich von Hamas-Kämpfern abgefeuert, ohne Schaden anzurichten. Alle großen arabischen Fernsehsender berichteten live von den Geschehnissen.

Jetzt Taten, keine Worte

Der bewaffnete Arm der Hamas, die Iss ed-Din al-Qassam-Brigaden, kündigte "sofortige und grenzenlose Vergeltung" an. Abdelasis Rantisi, im Juni 2003 selbst nur knapp einem Raketenangriff auf sein Auto entkommen, war zu keiner Stellungnahme bereit. "Jetzt sind Taten gefragt, keine Worte", so der jetzt vermutlich ranghöchste Hamas-Vertreter. Der bewaffnete Flügel der Fatah, die Al-Aksa Märtyrerbrigaden, erklärte: "Wer den Befehl zur Liquidierung Yassins unterzeichnete, hat gleichzeitig das Todesurteil für Hunderte von Israelis unterschrieben." Die israelischen Medien berichteten, dass Ministerpräsident Ariel Scharon die Militäroperation persönlich anordnete und verfolgte.

Israel kündigte bereits nach einem palästinensischen Anschlag auf seinen Hafen in Aschdod am 14. März eine Verschärfung der Militärattacken gegen Militante an. Bereits in der vorigen Woche beschoss die Luftwaffe mehrere Ziele im Gazastreifen. Die Menschen dort leben dort seit Monaten mit dem Lärm von Kampfflugzeugen. "Natürlich haben wir alle Angst", sagt Layla Bseiso aus Gaza. "Aber da wir den Gazastreifen sowieso nicht verlassen dürfen, bleibt uns keine andere Wahl als zu hoffen, dass man nicht selbst getroffen wird. Man hört immer wieder Kampfflugzeuge oder Hubschrauber, und irgendwo gibt es dann eine Explosion." Bseiso, Mitglied einer Frauenorganisation, nimmt an, dass die Tötung Yassins vieles ändert.

In den letzten Monaten machte die Hamas eine strategische Änderung durch. Die Stellungnahmen ihrer Führer, die sich bisher stets für die "Befreiung ganz Palästinas" und somit der Vernichtung Israels aussprachen, fielen in den letzten Monaten moderater aus. Scheich Yassin und andere bekräftigten mehrmals, sich mit einem palästinensischen Staat in den 1967 besetzten Gebieten zu begnügen. Zweimal hielt die Hamas einseitig erklärte Waffenruhen und die Einstellung ihrer Selbstmordanschläge ein, worauf Israel stets mit neuen Angriffen reagierte. "Die Radikalen in der Hamas werden jetzt wieder die Oberhand gewinnen", so ein palästinensischer Beobachter der Demonstration in Ramallah. "Es ist klar, dass sie auf die Ermordung ihres Oberhaupts reagieren müssen. Ich rechne mit vielen schweren Anschlägen in Israel." Auf diese wird Israel wiederum mit aller Härte reagieren. "Die israelische Regierung weiß natürlich, was so eine Tat für uns bedeutet. Die Positionen werden jetzt extremer und die Lage chaotischer. Und die Hamas geht gestärkt aus dem Angriff gegen sie hervor. Dazu muss man nicht hellsehen können. Anscheinend ist die Eskalation das Ziel Israels."

Israel will Zusammenbruch der Autonomiebehörde

"Je mehr Israel ranghohe Hamas-Mitglieder angreift", analysiert auch Danny Rubinstein von der israelischen Tageszeitung Haaretz, "desto mehr wächst die Popularität der Bewegung." In der Folge werde auch die palästinensische Polizei nicht mehr gegen die Hamas vorgehen können, weil diese Maßnahmen von der Bevölkerung als Kollaboration mit Israel interpretiert würden:

Die Liquidierung von Yassin könnte deshalb als Beitrag zum Zusammenbruch der Palästinensischen Autonomiebehörde gesehen werden. Durch die Schaffung von Chaos im Gazastreifen zieht die Hamas am Ende als einzige Gewinn aus Yassins Tod.

Politische Beobachter in Gaza rechnen auch damit, dass die Hamas ihre bisherige Akzeptanz der Führungsrolle der Autonomiebehörde überdenkt, was für einen etwaigen Abzug Israels aus dem Gazastreifen schwerwiegende Folgen hätte. Sollte die Islamische Bewegung dann versuchen, die Macht zu übernehmen, wären nicht nur schwere interne Kämpfe, sondern auch eine Veränderung der palästinensischen Position gegenüber Verhandlungen mit Israel die Folge.

Abu Ali Schahin von der Fatah interpretiert die Tötung Yassins deshalb auch als israelische Antwort auf bisher ausbleibende Versuche der Machtübernahme von Hamas im Gazastreifen. "Scheich Yassin hat sich mit Vertretern der palästinensischen Sicherheitsorgane getroffen und sich zur Kooperation bereit erklärt", so Schahin im palästinensischen Radio. Die Bemühungen der israelischen Regierung zur Entfachung eines Konfliktes zwischen Hamas und Autonomiebehörde hätten deshalb bisher nicht gefruchtet. Die Polizei wird es in der nächsten Zeit nicht mehr so leicht haben mit den islamistischen Kämpfern. Auf dem Gedenkplakat für Ahmad Yassin, das in Ramallah verteilt wurde, steht an die Adresse Israels gerichtet: "Wir nehmen die Herausforderung an."