Hamburg: Terroristen-Jagd wie in den 1970ern?
- Hamburg: Terroristen-Jagd wie in den 1970ern?
- Olaf Scholz: "Es gab keine Polizeigewalt"
- Auf einer Seite lesen
Um die Bevölkerung in die Aufklärung der Vorkommnisse rund um den G20-Gipfel Anfang Juli 2017 mit einbeziehen zu können, präsentiert die Polizei mehr als 100 Fotos und Videosequenzen. Ein Kommentar
Der G20-Gipfel ist komplett aus dem Ruder gelaufen. Auch ein knappes halbes Jahr später ist die juristische Aufarbeitung der Hamburger Chaos-Tage nicht besonders weit fortgeschritten. Nun hat sich die Polizeiführung etwas Neues - oder Altbekanntes - einfallen lassen, um mit den Ermittlungen voranzukommen.
Mehr als 100 Fotos und Videosequenzen, auf denen vermeintliche Beteiligte an den Straftaten zu sehen sind, wurden am Montag der Öffentlichkeit von der Sonderkommission (SOKO) "Schwarzer Block" präsentiert. Diese sind auf der Webseite der Polizei abrufbar, die Bevölkerung ist aufgerufen, sich an der Aufklärung zu beteiligen und Hinweise auf die Personalien der entsprechenden Personen zu geben. Diese Form der interaktiven Ermittlungsarbeit erinnert an die Terroristen-Jagd à la 1977.
Szenen der Verwüstung: Keine Überraschung
Machen wir uns nichts vor: Alle hätten vorher wissen müssen, dass das gewaltig schief geht. Es war unverantwortlich, den Gipfel in ein dicht besiedeltes Wohngebiet in einem Stadtteil mit einer aktiven autonomen Szene zu verlegen - und es war ebenso unverantwortlich, die Proteste gegen die Zusammenkunft der Reichen und der Schönen - und vor allem der Mächtigen - in eben jenes Viertel, den Hamburger Stadtteil Sternschanze, zu verlegen.
Das Ergebnis ist sattsam bekannt: Friedlicher Protest, der weitestgehend unterging, ein verwüsteter Stadtteil und zwar in einem Ausmaß, das selbst hartgesottenen Autonomen die Sprache verschlug, eine mehr oder weniger ergebnislose Zusammenkunft der Vertreterinnen und Vertreter der 20 größten Wirtschaftsnationen plus Delegationen aus allen Teilen der Welt, Bilder von den Mächtigen der Welt, wie sie der Darbietung in der Elbphilharmonie lauschen, konterkariert von den Szenen der Verwüstung.
Es bleibt das Gefühl, dass das eine, das ungestörte Lauschen der kulturellen Darbietung, mit dem anderen, der ungestörten Verwüstung des Stadtteils Sternschanze, in unmittelbarem Zusammenhang steht. Ein Eindruck, der sich umso mehr verdichtet, je mehr der Senat diesen zu zerstreuen versucht. Diesen Eindruck bestätigt auch die NDR-Produktion G20-Chaos - Wer hat Schuld?.
Weil nämlich die nicht gerade knapp eingesetzten Polizeikräfte damit beschäftigt waren, den Transfer der Staatsgäste von den Messehallen in St. Pauli zu der Elbphilharmonie in der Hafencity und anschließend zu deren jeweiligen Unterkünften über die Innenstadt verteilt, zu gewährleisten, gab es vermutlich zu wenig Einsatzkräfte, um die Verwüstung des Stadtteils Sternschanze zu verhindern.
Das Chaotisieren der Lage
Das Gefährdungspotential, das für die Sternschanze imaginisiert wurde, tat ein Übriges, weil nämlich die Beamten sich schlicht weigerten, sich der vermeintlichen Gefahr für Leib und Leben auszusetzen. Völlig zu Recht. Wenn nicht, ja, wenn nicht dieses Schreckgespenst reichlich übertrieben gewesen wäre. Brauchbare Beweise für die angebliche Gefährdung wurden jeweils bis heute der Öffentlichkeit nicht präsentiert.
So bleibt der Eindruck, dass die Anwohnenden und Geschäftstreibenden im Stadtteil Sternschanze den Preis dafür bezahlt haben, dass die Mächtigen die kulturelle Darbietung in dem musikalischen Elfenbeinturm der Reichen und die Schönen ungestört verfolgen konnten.
Die Protagonisten in der Sternschanze waren so bunt und vielfältig, wie der Stadtteil auch sonst ist: Zu den üblichen Verdächtigen, die gewöhnlich die Zentren der Macht, die Fensterscheibe der Sparkasse z. B., angreifen, gesellten sich Erlebnis-Touristen, zufällig (oder auch nicht) anwesende Gäste in den anrainenden gastronomischen Betrieben, Rechte, die eigens angereist waren, um zu chaotisieren und eventuelle Bilder friedlicher Proteste zu demontieren sowie Zivilfahnder.
Letztere traten schon früh durch Schusswaffengebrauch in Erscheinung und chaotisierten die Lage, indem sie ein offenbar völlig falsches Bild von der Situation in den Straßen rund um den Pferdemarkt an ihre Kontaktleute außerhalb abgaben. Die dadurch signalisierte Gefährdung führte dazu, dass sowohl die Zivilfahnder als auch die Einsatzgruppen abgezogen wurden, statt dem Treiben rechtzeitig ein Ende zu bereiten.
Den Aussagen von Anwohnenden zufolge versuchten das einige Aktiven des im Stadtteil beheimateten linken Zentrums "Rote Flora". Doch leider vergeblich, denn das Chaos hatte sich schon komplett verselbständigt. Die Polizei glaubte schlussendlich, dem nur noch beikommen zu können, indem schwer bewaffnete Spezialtruppen mit Sturmgewehren im Anschlag ins Rennen geschickt wurden.