Hamburg: Wo rohe Kräfte sinnlos walten
Zweite Horrornacht: Nach der Großdemo am Samstagnachmittag brach sich in der Nacht zum Sonntag im Schanzenviertel erneut die rohe Gewalt Bahn
Die Nacht von Freitag auf Samstag wird in der Hansestadt wohl so schnell niemand vergessen. Insbesondere die Anwohnerinnen und Anwohner des Stadtteils Schanzenviertel (Die Hölle liegt also in der Schanze). Entsprechend angespannt war die Stimmung vor der Abschlussdemo unter dem Motto "G20 not welcome: Grenzenlose Solidarität statt G20 ", zu der 100.000 Menschen erwartet wurden. Die Demo erfüllte alle Erwartungen: Sie war bunt, fröhlich, es waren viele gekommen, und sie verlief ohne Zwischenfälle.
Das hätte ein schöner Abschluss der Protestwoche gegen den G20 sein können. Wenn, ja, wenn nicht die darauffolgende Nacht gewesen wäre. Wieder kam es zu Gewaltexzessen, wieder wurde das Bild bestimmt von hochgerüsteten Spezialeinheiten mit Knarre im Anschlag einerseits und aggressiven, größtenteils männlichen Protestierenden andererseits. Wieder wurde versucht, mittels zahlloser Liveblogs der verschiedensten Medien ein halbwegs authentisches Bild von der Lage vor Ort zu vermitteln. Wieder unterbrachen Fernsehsender ihr Programm und schalteten in den "Brennpunkt-Sternschanze"-Modus. Wieder war in den sozialen Netzwerken die Wut, die Gereiztheit und auch die Angst über die Vorfälle abzulesen. Wieder war bei den TV-Aufnahmen im Hintergrund das Dröhnen der Hubschrauber zu hören, die seit vergangenen Montag allabendlich den Menschen dort den Schlaf rauben.
Allerdings gab es zwei entscheidende Unterschiede zu den Auseinandersetzungen am vorangegangenen Abend. Die Einsatzkräfte wiederholten erstens, was sie schon am vergangenen Montag falsch gemacht hatte: Sie trieb friedliche Sit-Ins mit Wasserwerfern und Pfefferspray auseinander. Während am Vorabend schwer vermummte, offensichtlich auf Krawall gebürstete, schwarze Gestalten den Gegenpart zu den martialisch ausgerüsteten Robocops bildeten, waren zweitens diesmal völlig ungeschützte und nicht vermummte junge Männer zu sehen, die z. T. mit Steinen warfen. Das legt den Schluss nahe, dass diese Auseinandersetzungen, dass diese erneute Horrornacht im Schanzenviertel reines politisches Kalkül war.
"Die GSG9 soll im Einsatz sein", schrieb jemand auf Facebook. Ob das stimmt oder nicht, das ist eine der vielen offenen Fragen, die im Nachhinein wird geklärt werden müssen. Allerdings, ob GSG9 oder nicht, zu sehen waren, wie am Vorabend auch, schwer bewaffnete Einheiten. Daran gibt es nicht den geringsten Zweifel, so ziemlich jedes Medium hat Bilder davon präsentiert.
"Die haben Gerätschaften dabei, sowas habe ich noch nie gesehen", beschrieb ein anderer das Militärarsenal, das unter seinem Balkon aufgefahren wurde. "Es sind 20.000 B... in der Stadt und die kriegen nicht ein paar Hundert Jugendliche in zwei Straßen unter Kontrolle?" fragte ein anderer. Das ist sozusagen die Gretchenfrage, auf die es keine einfache Antwort geben wird.
Viele offene Fragen
Dieser Frage wird sich der Senat stellen müssen. So wird z. B. der Erste Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) erklären müssen, wieso er am Freitagabend in der Elbphilharmonie seelenruhig den Klängen von Beethovens 9. lauschte, während im Schanzenviertel Sondereinheiten mit Gewehr im Anschlag aufliefen. Auch Innensenator Andy Grote (SPD) wird sein Fernbleiben von den Orten des Geschehens rechtfertigen müssen. Beide werden sich fragen lassen müssen, wieso sie nicht massiv bei Einsatzleiter Hartmut Dudde interveniert haben, nachdem bereits am vergangenen Montag klar war, dass dessen Eskalationsstrategie für vieles sorgt, bloß nicht für Sicherheit, schon gar nicht der Bürgerinnen und Bürger. Aber auch nicht derjenigen, die sich in friedlicher Absicht an den Protesten beteiligten, und rechtmäßigen Anspruch darauf haben, diese Proteste auch durchführen zu können. .
Die Grünen, die immerhin die Hansestadt mit regieren, werden sich fragen lassen müssen, wo sie während der Woche eigentlich waren? Insbesondere der grüne Justizsenator Till Steffen wird die Frage beantworten müssen, warum er nicht intervenierte, als Dudde sich über ein Gerichtsurteil hinwegsetzte und das Protestcamp auf der Elbhalbinsel Entenwerder räumen ließ. Zwar ist Steffen der Polizei gegenüber nicht weisungsbefugt, aber die Bevölkerung darf schon von einem Justizminister erwarten, dass dieser zumindest in die Debatte darüber eingreift.
Geklärt werden muss die Frage, wie es möglich sein kann, dass das Bundespresseamt während der Protestwoche bereits erteilte Akkreditierungen zurückzieht und den betroffenen Kolleginnen und Kollegen die Berichterstattung über den Gipfel untersagt. Ebenfalls verlangt der Umstand, dass dem anwaltlichen Notdienst in der eigens für den G20 eingerichteten Gefangenen-Sammelstelle (GeSa) die Arbeit erschwert wurde. Die Rede ist sogar von einem körperlichen Angriff auf einen Anwalt.
Es stellt sich die Frage, wer angeordnet hat, dass Sanitätskräfte unter Androhung, andernfalls erschossen zu werden, daran gehindert wurden, Verletzte zu behandeln? Das zumindest beschreibt die Gewerkschafterin Katharina Schwabedissen auf ihrer Facebook-Seite:
Ich bin selbst als Demosani unterwegs. Wir versorgen Menschen, die verletzt werden. Ich bin fassungslos, wenn ich diesen Bericht des Ermittlungsausschusses lese! Nach Mitternacht drang ein mit Maschinenpistolen bewaffnetes Spezialeinsatzkommando in ein Haus Beim Grünen Jäger ein, wo Demosanitäterinnen gerade Verletzte behandelten. Eine Person war so schwer verletzt, dass die Demosanis sie in ein Krankenhaus bringen wollten. Den Demosanis wurde mit Maschinenpistole im Anschlag "Hände hoch!" zugerufen und unmissverständlich bedeutet, dass andernfalls von der Schusswaffe Gebrauch gemacht werde. Anschließend wurden die Demosanitäterinnen einzeln aus dem Haus geholt, mittlerweile sind alle wieder frei. Die verletzte Person durfte nach Verhandlungen mit der Polizei zum Rettungsdienst gebracht werden.
Katharina Schwabedissen
Es stellt sich die Frage, wie viele Polizeikräfte überhaupt im Einsatz waren? Nachdem die einen wegen "ungebührlichen Verhaltens" nach Hause geschickt wurden, wurden am Freitag in aller Hast Beamte aus anderen Bundesländern angefordert. Übrigens auch wieder aus Berlin. Was waren das für Einheiten? Welche Rolle spielten private Sicherheitsunternehmen? Wie viele dieser privaten Sicherheitsleute waren im Zusammenhang mit dem G20 im Einsatz? Welche Aufgaben übernahmen sie?
Auch die Frage muss beantwortet werden: Kann es ausgeschlossen werden, dass die Ausschreitungen von so genannten Agents Provocateurs, also Staatsbediensteten im Undercover-Einsatz, forciert wurden?
Auch die Linke wird sich unangenehmen Fragen stellen müssen
Fakt ist, das Ausmaß an Gewalt, das sich in der Nacht von Freitag auf Samstag offenbarte, hat alle überrascht - und überfordert.
Andreas Blechschmidt, einer der Anmelder der "Welcome to Hell"-Demo, sagte im NDR-Interview: "Wir haben den Eindruck gehabt, dass sich hier etwas verselbständigt hat, und dass hier eine Form von Militanz auf die Straße getragen worden ist, die sich so'n bisschen an sich selbst berauscht hat. Und das finden wir politisch und inhaltlich falsch. Es geht darum, deutlich zu machen, das die Verantwortlichen in der Messehalle als diejenigen, die für Krieg, für Hunger in der Welt verantwortlich sind, zu markieren. Aber es geht nicht darum, hier Budnikowksy-Filialen (eine Drogerie-Kette) und Autos von Anwohnerinnen anzuzünden."
Viele Erklärungen am Tag danach klangen wie "das hat mit dem Islam nix zu tun". Es seien keine Linken, die ihre Zerstörungswut ausgetobt hätten. Ob es Linke waren oder nicht, ist aber nicht der Punkt. Unbestreitbar ist, dass die Aktionswoche, insbesondere die "Welcome to Hell"-Demo Ausgangspunkt dieser sinnlosen, rohen Gewalt ist, von der in erster Linie Menschen betroffen sind, die eher mit den Protesten als dem G20 sympathisierten.
Thematisiert werden muss auch, inwieweit diese Gewalt eine zutiefst patriarchale Erscheinung ist. Zu sehen waren ausnahmslos gewalttätige junge Männer. Das ist allerdings nur ein Teil der Wahrheit. Denn bekanntermaßen mischen in der Szene auch Frauen mit. Dass auch von ihnen Gewalt ausging, kann nicht komplett ausgeschlossen werden. Erfahrungsgemäß ist der Part der Frauen der, die Männer in ihrem Tun zu bestärken und anzufeuern. In jedem Fall aber trägt jede Aktivistin in den entsprechenden Gruppierungen eine Mitverantwortung an den Geschehnissen.
Die Frage, ob die Linke in Hamburg dieses Ausmaß an Gewalt zu tolerieren bereit ist, wurde schon oft gestellt. Obwohl sich die Gewalt noch nie in diesem Ausmaß offenbarte. Insofern lohnt es sich, die Frage erneut zu stellen. Aber bis dato wurde sie immer mit "Ja" beantwortet. Beispielsweise nach den 1. Mai-Demos, nach fast jedem Schanzenfest und nach vielen Anti-Nazi-Demos.
Die Linke beantwortete diese Frage auch 2009 nach der Anti-Lanzmann-Aktion einhellig mit "Ja". Damals wurde zum ersten Mal nach 1945 die Vorführung eines jüdischen Films, "Wieso Israel?" des französischen jüdischen Filmemachers Claude Lanzmann, gewaltsam verhindert. Dabei wurden die potentiellen Kinobesucherinnen und -besucher gefilmt, bepöbelt, bespuckt, tätlich angegriffen, u.a. zog ein älterer Aktivist seinen Gürtel aus der Hose, um einzelne damit zu traktieren. Den Verhinderern galt Lanzmann als Kriegstreiber und Zionist, dessen Werk die Besatzung verherrliche.
Der Film "Wieso Israel?" wurde Anfang der 1970er Jahre gedreht. Lanzmann begab sich nach Israel und befragte Jüdinnen und Juden, wieso sie in Israel leben. Thematisiert wird in dem Film neben inner-jüdischem Rassismus auch die Besatzungspolitik. Die Debatte darüber in der jüdischen Gesellschaft war seinerzeit allerdings nicht besonders ausgereift. Schauplatz damals war das Alternativ-Kino "B-Movie" im Hinterhof des "Internationalen Zentrums B5", das Freitagnacht von Polizeikräften gestürmt wurde.
Zum aktiven Kern der im "Internationalen Zentrum B5" ansässigen Gruppierungen gehörte damals ein junger Mann, der heute als Sprecher des "Roten Aufbaus Hamburg" gilt. Im Rahmen von Hausdurchsuchungen im Zusammenhang mit dem "Roten Aufbau Hamburg" wurden im Vorfeld des G20 Dinge sichergestellt, die darauf hindeuten, dass die Aktiven von 2009 nicht eben älter und weiser, sondern gefährlicher geworden sind. In Hamburg und Rostock fanden Hausdurchsuchungen statt. In dem Zusammenhang wurde der "Rote Aufbruch Hamburg" genannt:
Den Fahndern fielen mehrere Dutzend Gegenstände in die Hände, die ihrer Überzeugung nach nur dem einem Zweck dienen sollten: Gipfelteilnehmer und Polizisten in Hamburg gezielt anzugreifen. Zu den sichergestellten Beweisstücken gehören Feuerlöscher, die mit einem Bitumengemisch gefüllt waren. Mutmaßlich sollten Polizisten damit besprüht und anschließend angezündet werden. Die dafür nötigen Bengalos wurden ebenfalls entdeckt.
Zudem fanden die Ermittler Flaschen mit brennbaren Flüssigkeiten sowie Böller. In der Kombination ließen sich daraus Molotow-Cocktails herstellen, erläuterte der Polizeipräsident. Die Wirkung solcher selbstgebastelter Sprengsätze demonstrierte die Polizei in einem Film. Die Aufnahmen zeigen, wie ein Böllerbrandsatz einen Schutzhelm zerfetzt. Auch andere der beschlagnahmten Gegenständen lassen sich als tödliche Waffen einsetzen, etwa Messer, Baseballschläger, Schlagstöcke sowie große Zwillen samt Stahlkugeln.
SHZ
Die Linke Hamburg hat sich damals nahezu geschlossen hinter die Anti-Lanzmann-Aktivisten gestellt. Auch wenn es das "Internationale Zentrum B5" in der damaligen Form heute nicht mehr gibt, alle beteiligten Gruppierungen, so sie noch existieren, sind nach wie vor Teil der linken Szene und bei Antifa- oder Friedensdemos mit von der Partie.
Die Frage, inwieweit sich das Organisatoren Team der Proteste vom vergangenen Samstag vom "schwarzen Block" distanzieren würde, wurde am Freitagmorgen auf einer Pressekonferenz im St. Pauli-Stadion von einem Sprecher der "G20-Plattform" mit "wir lassen uns nicht auseinanderdividieren" beantwortet.
Zur selben Zeit versuchten Teile jenes "schwarzen Blocks" das Altonaer Rathaus zu stürmen, Stadträder, die kostenlos ausgeliehen werden können, wurden zerstört, klapprige Kleinwagen angezündet und Eltern erhielten Anrufe, ihre Kinder aus der KiTa abzuholen, weil deren Sicherheit nicht mehr garantiert werden könne.
Zu dem Zeitpunkt wurde in der Kommandozentrale der Polizei hastig herum telefoniert, um alle verfügbaren Kräfte nach Hamburg zu beordern. Noch mehr hochgerüstete Spezialeinheiten wurden eingeflogen.
Anschließend gab es viele Versuche, sich rauszureden: Das hat ja niemand ahnen können! Ja, DIESES Ausmaß hat alle geschockt. Aber wer, wie z. B. die Anmelder dieses Events eine jahrzehntelange Erfahrung in und mit der Szene hat, und dann zur "Welcome to Hell"-Demo bittet, muss damit rechnen, dass sich Leute eingeladen fühlen, die jedes Gartenfest in eine Ballermann-Orgie verwandeln.